Krise und Aufschwung, geopolitische Neuordnung und industrielle Revolution

 (erschienen in dem konkret-Buch „No way out? – 14 Versuche, die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise zu verstehen“)

„No way out?“ Der Kapitalismus wird nicht an inneren Widersprüchen zugrunde gehen, schon gar nicht an der Finanzblase, die sich aufbläht und platzt und dabei – durchaus ökologisch – nutzloses Geldkapital beseitigt, das im Wirtschaftskreislauf eine Hyperinflation auslösen würde. Der Kapitalismus kann nur, wie obsolet gewordene Gesellschaften früher, an einem Bewußtsein scheitern, das ihn beseitigen will, um egalitäre und solidarische Produktions- und Lebensverhältnisse, die allseitige Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse - letztlich den autonomen Menschen - zu ermöglichen. Durch den Kommunismus also, der, an der ursprünglichen Idee anknüpfend, erster Kritiker der in seinem Namen im 20. Jahrhundert installierten Zwangsherrschaften zu sein hätte. Die Herrschaft des Adels war ökonomisch längst überholt, als sie durch das Bestreben einer neuen Klasse gestürzt wurde, an die Macht zu gelangen und den Weg für ihre eigenen neuen Produktionsverhältnisse freizumachen.

Auch die Marktwirtschaft ist historisch überholt. Ihr Entwicklungsniveau würde reichen, um die Welt zu ernähren, dennoch ist die Hälfte der Menschheit dem vorzeitigen Tod durch Hunger, Krankheit und Krieg ausgesetzt. Ihr Produktionstyp vernichtet einen wachsenden Teil der Werte durch die von ihm angerichteten Schäden und Verwüstungen, und die Nutzung der Böden für den Anbau von Industriepflanzen verdrängt die Nahrungsmittelpflanzen. Doch nirgendwo strebt das Bewußtsein eine befreite Gesellschaft an. In den reichen Ländern bleibt die Kritik im Gestrüpp des Systems hängen. Institute des Guten (Greenpeace, Linkspartei, Occupy, Welt-Foren, Konsumberater) dienen sich an, den Kapitalismus zu reparieren und zu modernisieren; mitunter gleitet ihre Reduktion der Kritik auf die Finanzwelt in den Antisemitismus ab. In den Entwicklungs- und Schwellenländern gilt China als Erfolgsmodell, es sei denn, das Massenbewußtsein dort richtet sich in einem klerikal-bürgerlichen oder klerikal-faschistischen Überbau ein.

Die größte Industrialisierungswelle der Geschichte

Die KONKRET-Gesprächsrunde „No way out?“ hat mir noch einmal gezeigt, wie wichtig es ist, mit der Umdeutung der Realität in die Fiktion sparsam umzugehen und den Blick auf Disparitäten nicht durch die Phrase von der globalen Krise zu trüben. Sonst kann es passieren, daß man das Ende der Mehrwertproduktion verkündet, obwohl die halbe Menschheit in China, Indien, Brasilien und anderswo sich auf dem Weg der größten Industrialisierung der Geschichte befindet - in einer Melange aus klassischem Kapitalismus (Fordismus) und Moderne. Tatsächlich befindet sich der alte, demokratisch verfaßte Kapitalismus des „Westens“ (USA und Europa) in der Krise, während Industrie und Lohnarbeit in den Entwicklungs- und Schwellenländern rapide wachsen. Die Zeit, in der sie nur ausgebeutete Lieferanten der Imperialisten waren (Dependenztheorie), ist vorbei. Signale der neuen Epoche sind Bittsteller-Reisen westlicher Politiker nach China sowie neue Autofabriken und Raffinerien in Schwellenländern. Man sollte nicht den Bau von Wolkenkratzern, Eisenbahnen, Staudämmen und Fabriken in den Vereinigten Staaten als Zeichen industrieller Blüte und die gleichen Dinge in China als Fiktion behandeln.

China hat sein Industriepotential seit Mitte der siebziger Jahre um das 19fache gesteigert; dafür benötigten die USA 160 Jahre. Die aufkommenden Mächte jagen den alten Imperien Rohstoffe und Märkte ab, etablieren weltweit ihre Firmen und ihr Militär und erobern geostrategisch wichtige Regionen. Zweistellige Zuwächse der Sozialprodukte, der Industrie, der Beschäftigung sowie das Sammeln von Schuldscheinen aus aller Welt sind Merkmale eines realen Aufschwungs und nicht die einer Krise. Im Zentrum des neuen Industrieschubs steht wieder das Automobil. Im Jahr 2010 stieg die Zahl der KFZ-Neuzulassungen in China um 35 Prozent, in Indien um 33 Prozent, in Rußland um 39 Prozent, in Brasilien auf bereits hohem Niveau um elf Prozent, während sie in Deutschland um 31 Prozent zurückging. Das Entwicklungspotential ist gigantisch. Heute kommen in den USA auf 1.000 Einwohner 860 PKW, in Deutschland 700, in China 19, in Indien noch weniger. Die Angleichung der Verkehrsdichte ist ein 3-Milliarden-PKW-Programm.

Nachindustrialisierungen unter Weltmarktbedingungen sind abhängig von einer strengen staatlichen Regulierung. Voraussetzungen fürs Gelingen sind eine eigene, unterbewertete Währung als Motor für die Exportwirtschaft, ein nationaler Schutzschirm gegen ausländische Waren, die den Aufbau einer eigenen Industrie behindern, Durchlässigkeit für Kapital und technische Innovationen, die ihn fördern, polizeistaatlich kontrollierte Ausbeutung (Gewerkschafts- und Streikverbot, Sechs-Tage-Woche, kein Sozialsystem) und Begrenzung des Mehrwerttransfers ins Ausland. Der Staat muß außerdem das Militär zwecks Sicherung der Rohstoffversorgung und Märkte und zur Abwehr fremder Begehrlichkeiten fit machen. So oder so ähnlich erfolgten alle historischen Nachindustrialisierungen: Deutschland, Japan, Südkorea. Eine spätere Entwicklung zur Demokratie ist möglich, aber nicht garantiert. Chinas Kombination von Marktwirtschaft und Diktatur könnte sich für den Kapitalismus als attraktiv erweisen, wenngleich sie stets aufstandsgefährdet wäre.

Daß die Industrialisierung in den Wachstumsstaaten nicht echt sei, weil sie auf Pump betrieben wird und zukünftige Wertschöpfung verpfände, ist die Meinung des Buchhalters. Die schuldenfinanzierte Produktion war (Eisenbahn) und ist (Energiewende) reale Wertproduktion. Nicht das produzierende Kapital, sondern die Staaten und Banken sind über Gebühr verschuldet. Probleme treten auf, wenn der Mehrwert nicht reicht, um die Kredite zu tilgen (Griechenland), oder der Wert, der den Gläubigern zusteht, verspielt worden ist. Die Geschichte hält diverse Möglichkeiten zur Beseitigung oder Senkung der Schulden bereit. Beim drastischen Sparen würde die Weltwirtschaft Aufträge einbüßen, die Währungsreform oder der Schuldenschnitt belasten die Finanzmärkte, bei der Inflation wären Sparer, Rentner, Lebensversicherer die Verlierer. Auch eine Kopplung verschiedener Möglichkeiten ist bekannt: Eine inflationäre Epoche wird mit einer abrupten Entwertung beendet; danach legt jeder mit 40 Mark los. In der westdeutschen Währungsreform 1948 wurden die Ersparnisse im Verhältnis von 20 zu 1 entwertet, die Schulden des Finanzsystems (Sparguthaben) also auf Kosten der Sparer beseitigt. Die Nazis finanzierten ihre Kriege mit Krediten von 570 Milliarden Reichsmark und diversen Veruntreuungen – die Anzahlungen von 300.000 „Sparern“ für den „Volkswagen“ wurden für den Panzerbau entwendet. Auf der Londoner Konferenz zur Wiederherstellung der westdeutschen Kreditfähigkeit 1951 akzeptierte die Bundesregierung Vorkriegsschulden in Höhe von 15,6 Milliarden DM und Schulden aus der Marshall-Plan-Hilfe in Höhe von 20,8 Milliarden DM. Die Rückzahlung war aus Überschüssen der deutschen Leistungsbilanz zu leisten. Danach ging das Wirtschaftswunder los.

Krise des Profits und der westlichen Staaten

Wenn der Kapitalismus hier stagniert und dort wächst, drängt sich die Frage auf, worin die alten Krisenmächte sich von den Aufschwungmächten unterscheiden. Da ist vor allem die hohe organische Zusammensetzung des Krisenkapitals (das stärkere Wachstum des toten Kapitals, der Produktionsmittel, im Verhältnis zu den Kosten der die Gesamtapparatur beseelenden Arbeitskräfte), die nach Marx den tendenziellen Fall der Profitrate impliziert. Wie man‘s auch nimmt, die Empirie zeigt, daß der Kapitalismus mit einem großen Kapitalblock es – im Vergleich mit seiner nachindustrialisierenden Konkurrenz - offenbar schwerer hat, gleich hohe Profitraten zu erwirtschaften. Die Akkumulation stockt, wo Arbeitskräfte besonders stark durch Produktionsmittel verdrängt wurden, während die Neureichen, die eine „niedrige organische Zusammensetzung des Kapitals“ aufweisen, zweistellige Wachstumsraten schreiben.

Zusätzlich wird der Profit im „Westen“ durch Lohnzusatzkosten (Sozialversicherungen) dezimiert, die dem entwickelten Kapitalismus in sozialen Kämpfen abgerungen worden sind, und durch 60 Jahre „Keynesianismus“ belastet, der immense Staatsschulden aufgetürmt hat, um über die Nachfragepolitik marode Wirtschaftssektoren am Leben zu halten und staatliche Infrastruktur (Bahnhöfe, Trassen, Straßen, Opern etc.) zu finanzieren, Konjunkturen zu päppeln und Sozialtransfers zwecks Befriedung der Bevölkerung zu sichern. In den USA kommt die Wertverschwendung durch Kriegskosten, denen kein ausreichender Diebstahl von fremden Werten gegenübersteht, dazu. Der Staat holt sich die Mittel für seine Nachfrage letztlich immer aus profitablen Sektoren, senkt so den Gesamtprofit des Gesamtkapitals, dadurch das Wachstum und die verteilbare Wertmasse. Am Ende ist der Staat so hoch verschuldet, daß er als Befriedungsinstanz und Wegbereiter seines expansiven Kapitals ausfällt. Sich selbst überlassen würde der Markt unrentables Kapital ausmerzen, um die Profitrate laufend zu sanieren.

Einen qualifizierten Neoliberalismus hat es im „Westen“ seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Neoliberal handelt der chinesische Staat, indem er die Versorgung von Kranken, Arbeitslosen und Rentnern ihren Familien überläßt, damit sie die Profitrate nicht in Mitleidenschaft ziehen und um die Familien zu zwingen, Wanderarbeiter abzustellen, die ihr Überleben gewährleisten. Im demokratisch verwalteten Kapitalismus entfällt fast die Hälfte des Konsums auf Menschen, die selbst keinen Wert herstellen. Der Kapitalismus müsse sich „seinen Opfern widmen, damit sie stillhalten“, schrieb Paul Mattick, „aber das System wird diese Verluste nur tragen“, wenn die Produktivität genug Wert für die Kapitalakkumulation abwerfe. Werden die Profite „von den Kosten der Erhaltung der nicht-produktiven Bevölkerung aufgezehrt“, höre „das Kapital auf, als Kapital zu fungieren“. Demzufolge wäre der Tod aller Rentner, Arbeitslosen und Kranken aus marktwirtschaftlicher Sicht ein Gewinn. Schon deshalb ist jeder Gedanke an eventuell doch gute Seiten des Marktes, der im KONKRET-Gespräch als Hinweis auf eine kluge Bedürfnisermittlung im Automobilbereich vorkommt, ein intellektuelles Desaster.

Der sinkenden Profitrate wird permanent entgegengewirkt: durch die Verlängerung des Arbeitstags, sinkende Löhne, Senkung von Lohnzusatzkosten und der Kosten für Rohstoffe, Senkung des Wertabzugs des Staates, durch Übertragung von Staatssektoren auf die Profitwirtschaft (Bahn), durch Aneignung von Mehrwert aus dem Ausland oder der Konkurrenz im Wege der Kapitalkonzentration, durch Mischung von Kapital hoher organischer Zusammensetzung mit Kapital niederer Relation in Schwellenländern (Bau von Autofabriken in China und Brasilien). Ein wesentliches Element der Sanierung der Kapitalrelation ist die Kapitalvernichtung, wie sie in Weltkriegen geschah oder im Zuge der großen Deindustrialisierung des „Ostblocks“, dessen Industrie durch die Integration in den Weltmarkt konkurrierendes Kapital geworden war. Dazu gehören auch Börsencrashs, die in erster Linie fiktives Kapital beseitigen. Marx’ Krisentheorie, derzufolge die Kapitalvernichtung zur Korrektur der organischen Zusammensetzung genauso zum Kapitalismus gehört wie die Wertvermehrung, erfährt späten Ruhm. Nuriel Roubini schreibt: Der Höhepunkt einer Finanzkrise sei zwar nicht der ideale Zeitpunkt für die Gesundschrumpfung, „doch irgendwann muß sie kommen. Schulden müssen erlassen werden, Banken müssen untergehen, Automobilhersteller müssen Fabriken schließen.“ Der Rechtskeynesianer Hankel sagt: „Aus jedem Blutbad geht der Kapitalismus gestärkt hervor (...) Am Ende wird das Zerstörte wieder aufgebaut, Aufträge werden erteilt, Einkommen geschaffen, und es stellt sich je nach der Dimension der Katastrophe ein größeres oder kleineres Wirtschaftswunder ein.“ Der Kapitalismus gerät jedenfalls nicht wegen seiner Finanzen in die Krise. Dem Crash von 1929 ging eine lange Phase sinkender Investitionen voraus. Auch heute beruht die Krise darauf, daß „die Nachfrage der Unternehmen nach Investitionen kollabiert“ ist, sagt Nobelpreisträger Phelps (USA).

Im überzüchteten Kapitalismus wird der Mangel an Mehrwert mit Finanzschrott aufgefüllt, wird also Kapital „auf die Bahn der Abenteuer gedrängt: Spekulation, Kreditschwindel, Aktienschwindel“ (Marx). Dieses fiktive Kapital werde „sofort entwertet mit dem Fall der Einnahmen, auf die er berechnet ist“. Der Finanzsektor bläht sich zusätzlich auf durch leichtfertige Kredite und Verbriefungskreationen - bis die Blase platzt. Aber der Finanzcrash muß die Konkurrenzkraft des produktiven Kapitals nicht beeinträchtigen. „Soweit die Entwertung (...) dieser Papiere unabhängig ist von der Wertbewegung des wirklichen Kapitals (...) wurde die Nation um keinen Heller ärmer durch das Zerplatzen dieser Seifenblasen von nominellem Geldkapital“ (Marx). Unternehmen werden Verluste erleiden, sofern sie Liquidität spekulativ geparkt haben oder von Staatsaufträgen abhängig sind. Waffenlieferungen an Griechenland, Portugal und Spanien haben Deutschland zum drittgrößten Rüstungsexporteur gemacht. Die Schuldenkrise dieser Länder führt dazu, daß die deutsche Waffenkarawane jetzt Richtung Saudi-Arabien, Arabische Emirate und Brasilien zieht.

Die gleichzeitige Existenz des stagnierenden, unter der Last der Schuldenberge ächzenden, „alten“ Kapitalismus und des expandierenden „neuen“ Kapitalismus spiegelt sich in den Weltfinanzen. Die nach ihren Anfangsbuchstaben benannten Brics-Staaten (Brasilien, Rußland, Indien, China, Südafrika) halten die Hälfte der weltweit 10.000 Milliarden Dollar an Devisen. Hauptschuldner sind heute nicht mehr Südamerika oder Afrika, sondern die USA und europäische Staaten. Die Wachstumsstaaten erleben einen allmählichen Übergang vom Exportmodell zum Binnenmarkt, steigender Konsum inbegriffen. Nach einer Studie von Roland Berger wird Brasilien in drei Jahren der drittgrößte Automobilmarkt der Welt sein. Mehr noch als in China wächst in Brasilien eine breite, kaufkräftige Mittelschicht heran. Das Haushaltseinkommen von gegenwärtig 13.000 Dollar im Jahr nähert sich dem europäischen. China wird 2020 mit eineinhalb Milliarden Menschen die Wirtschaftsmacht Nummer eins auf der Welt sein: eine Diktatur als Garant für wirtschaftlichen Erfolg, es sei denn, dort bräche Demokratie aus oder soziale, religiöse und ethnische Zentrifugalkräfte würden das Land vorher zerreißen. Es mag der Wunsch Vater des Gedankens gewesen sein, als der amerikanische Senator McCain die chinesischen Vertreter auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2012 mit der Prognose schockte, daß der „Arabische Frühling auch nach China kommen“ werde. Denkbar ist das. „Die Fliehkräfte in vielen asiatischen Gesellschaften werden oft nur durch das Wirtschaftswachstum unter Kontrolle gehalten“ („FAZ“).

Geopolitische Verschiebungen – Tripolarität

In der Entwicklung der Forderungen und Schulden spiegeln sich Aufstieg und Fall der Weltmächte. Die Welt steuert geopolitisch auf eine Tripolarität mit den Machtzentren China, USA und Europa zu, sofern es gelingt, den Euro-Raum zu sanieren und als homogenen Machtblock zu installieren. Viele Linke, speziell Parteilinke, wollen nicht wahrhaben, daß Imperialismus kein Privileg der USA oder des „Westens“ mehr ist. Die westliche Einflußsphäre, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ausdehnte, schrumpft wieder. Schwellenländer dringen in frei gewordene Räume vor. Wenn der „Westen“ den Iran boykottiert, füllen China und Indien ihre rasant gewachsenen Raffineriekapazitäten mit iranischem Öl. Die ökonomische Dynamik auf der Welt geht von den Schwellenländern aus. Sie jagen den alten Imperien, die unter der Last sinkender Profitraten, hoher Schuldenberge und Kriegskosten ächzen, Länder und Meere ab, etablieren in entlegenen Regionen Firmen und Militär, schmieden bilaterale Zollunionen und Militärbündnisse, erobern wichtige Handelsrouten. Wo der finanziell klamme Westen seine Soldaten abzieht, dringen „nachwachsende“ Staaten ein (Pakistan, Iran, Sudan und andere afrikanische Länder). China wird aus den Nähten platzen wie einst das schnell nachindustrialisierende Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. Deshalb verlagern die USA ihre militärische Präsenz nach Asien – auch auf Wunsch der Nachbarländer Chinas. Ihre Aufmerksamkeit gilt auch dem unberechenbaren, mit China verbündeten Iran. Gegen ihn rüsten die USA Saudi-Arabien als regionale Gegenmacht auf

Der Kapitalismus kann sich nur reproduzieren, wenn er - neben der Revolutionierung seiner Produktionssphäre - expandiert, um sich Märkte, Rohstoffe und fremden Mehrwert anzueignen. Der Verzicht darauf ließe das System implodieren. Es muß selbst dann expandieren, wenn die Kosten dafür den Ertrag übersteigen. In diesem Fall hat der Staat dafür zu sorgen, daß die Erträge dem Kapital zufließen und die Kosten sozialisiert werden. Am Ende werden Imperien, die sich übernehmen und mangelnden Profit generieren, weichen oder den Einfluß mit neuen Mächten teilen müssen. Daß ein Teil der hohen Forderungen Chinas an die USA ausfallen oder entwertet werden könnte, ändert nichts an Chinas Aufschwung – weder am Zuwachs der eigenen Industrie- und Waffenproduktion noch an der hohen Mehrwertrate und schon gar nichts an den Schürfrechten überall auf der Welt. China hortet nicht nur ausländische Staatsanleihen, es kauft von Asien über Afrika bis in die USA und in Europa Böden und Firmen und läßt von seinem eigenen Militär oder gekauften Milizen Arbeiterkolonnen in afrikanischen Bergwerken beaufsichtigen. Staatsanleihen sind nicht nur von Verlust bedrohte Papiere. Chinas Griechenland-Anleihen ebnen den Weg nach Kreta, wo ein chinesischer Mittelmeer-Hafen entstehen soll, Kongo-Anleihen ebnen den Zugang zu den dortigen Bergwerken.

Doch keine Expansion ohne Heimathafen, in den das Kapital sich in Krisen zurückziehen kann, um vor nationalistischen, rassistischen und religiösen Angriffen fremder Militärs und aufgescheuchter Massen geschützt zu sein. Bewußtsein leitet sich eben nicht nur aus dem ökonomischen Sein ab, sondern auch aus scheinbar unerschütterlichen Traditionen. Dasselbe gilt für den Bewußtseinsverfall. Europa hat gegenüber seinen Hauptkonkurrenten den Nachteil, nicht als Nation handeln zu können. Das europäische Kapital hat das Handicap, daß ihm die jeweilige Nation zu eng und Europa als Operationsbasis zu heterogen ist. Es taugt zum Binnenmarkt, aber nicht zum Krieg - schon die Sicherung der Transportwege fällt schwer. Vielleicht wird Europa einmal zu einem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen. Denn Deutschland ist unangefochtene ökonomische Führungsmacht in der EU - nicht zuletzt durch Lohnstagnation, hohe Produktivität und den Euro, der den schwächeren Staaten die Möglichkeit nimmt, ihre Waren durch Währungsabwertungen zu verbilligen. In der offenen Konkurrenz unterschiedlicher Produktivitätsniveaus zieht der Leistungsstarke Produktion, Beschäftigung und Steueraufkommen an. Südeuropa braucht für die Senkung seiner Auslandsschulden Exportüberschüsse, die es nicht erzielen kann, weil Deutschlands Exportkraft im Weg steht. Nach Berechnungen der Unternehmensberatung McKinsey macht Deutschland durch den Euro einen jährlichen Gewinn von 165 Milliarden Euro. Das wären in 15 Jahren knapp 2.500 Milliarden Euro. Im Grunde hat Rest-Europa damit Deutschlands Kosten der Wiedervereinigung und seine bisherigen und zukünftigen Beiträge zu den Rettungsfonds bezahlt bzw. vorgestreckt.

Angela Merkel scheint ein deutsch-französisches Kerneuropa zu gelingen, in dem Deutschland die Führungsrolle innehat. Notleidende europäische Staaten wenden sich an den Paten „Deutschland“, Chinas Ministerpräsident Wen Jiabao lobte: „Sind die deutsch-chinesischen Beziehungen gut, sind auch die europäisch-chinesischen Beziehungen gut.“ Aber Deutschland füllt die Rolle nicht aus. Der Patron muß auch geben. Eine verantwortungsbewußte Zentralmacht erforderte so etwas wie einen Länderfinanzausgleich auf europäischer Bühne. „Wenn die Leute in Texas reich werden und ihre Bundessteuern bezahlen, landet das Geld in Form von Sozialabgaben in Michigan. Das gibt es nicht in Europa. Ohne einen solchen Mechanismus lassen sich die Ungleichgewichte in einer Währungsunion jedoch nicht auflösen“ (Niall Ferguson, Harvard-Professor für Finanzgeschichte). Deutschland betrachtet Europa aber nur als einen Ort, der auszuplündern ist, und sich selbst als Geldeintreiber der Gläubigerallianz, der in China Geld locker machen will, um die eigenen Exporte zu sichern. Deutschland agiert als unerträglich überhebliche Ordnungsmacht, die Europa mit allen Unarten des Preußentums drangsaliert und die Botschaft ausstrahlt, dass am deutschen Wesen mal wieder die Welt genesen soll.

Zwei widerstreitende Tendenzen beeinflussen die Geschicke des Euro-Raums: Zum einen der Zwang zur gegenseitigen Rettung, um den Zusammenbruch des Staatenbunds und eine Regression in den aggressiven Nationalismus des 19. Jahrhundert zu verhindern, auf der anderen Seite die brutale Eintreibung der Forderungen und die Demütigung der Schuldner: Schuldenbremse, Senkung der Löhne, sozialer Aderlaß, Strafkatalog, Sonderkonten, ein Pontius Pilatus für Finanzen von Deutschlands Gnaden. Je größer die Zumutungen für die anderen, desto stärker wird der antideutsche Nationalismus (in Griechenland werden allerdings auch Arbeitsemigranten aus Albanien und Flüchtlinge gejagt) und der vaterländische Geist in Deutschland. Headline: „Europa lernt Deutsch!“ („Welt am Sonntag“). Helmut Schmidts Mahnung, Deutschland solle sich des eigenen Vorteils wegen zusammenreißen, statt Großmachttöne zu spucken, war ein vernünftiger Rat.

Die Dritte Industrielle Revolution

Die Nachindustrialisierung der halben Menschheit fällt zusammen mit der grünen Revolutionierung der Produktionssphäre, der dritten industriellen Revolution (nach Dampfmaschine und Massenmobilität). Diese Revolution wird Industrie, Städte, den Verkehr und die Energie transformieren, wird die Landwirtschaft auf Energiepflanzen und die privaten Haushalte auf Mehrwertproduktion umstellen (Photovoltaik-Dächer und Keller-Kraftwerke). „Allein in der EU können 190 Millionen Häuser zu Mikrokraftwerken umgebaut werden“, sagt der US-Ökonom Jeremy Rifkin. Diese Revolution antreibende Faktoren sind die vom Kapitalismus selbst verursachte verheerende Schadensbilanz, der Ausstieg aus der Epoche der Öl-Ökonomie, die rasante Entwicklung der Produktionstechnik und die Mutation von Produktionsmitteln zu Apparaten mit selbstzerstörerischem Potenzial (Atomkraft). Der Klimawandel hat die Schwelle, nach der es kein Zurück mehr gibt, überschritten. Forschungsinstitute empfehlen dringend, mit „Anpassungsmaßnahmen“ zum Schutz vor massiven Niederschlägen, tropischen Wirbelstürmen und Flutwellen in Europa loszulegen (deshalb favorisierte Angela Merkel Klaus Töpfer als Bundespräsidenten).

Die Marktwirtschaft ist ein flexibles System. Sie ruiniert das Leben und die Erde und bietet sich gleichzeitig als Rettungsdienst an. Sie sorgt für Erderwärmung, Wirbelstürme und Überschwemmungen und nimmt dankend Anschlußaufträge entgegen. Die Marktwirtschaft wird Holland schwimmende Städte und Schiffe für den Nahverkehr anbieten und 200 Millionen Menschen in Bangladesch dem Meer überlassen. Nach dem Marktgesetz ist alles Unproduktive dem Untergang geweiht. Dem Zwang zur Expansion gehorchend, antwortet das Marktsystem auf die Umweltschäden der einen Industriestufe mit dem Draufsatteln der nächsten. Der Klimawandel und die Energiewende induzieren ein Akkumulationsmodell, in dem der Anteil der Investitionen zu Lasten des Konsums steigt. Immer mehr Arbeit wird sich in Industrieanlagen und Mammutprojekten vergegenständlichen.

Die Umstellung des Kapitalismus auf grüne Techniken wird alles andere als sanft und friedlich sein. Für Gaskraftwerke, Mega-Windräder, Solaranlagen, Speicherfabriken, neue Strom-Autobahnen, die Europa und Nordafrika verbinden, schwimmende Städte und Fabriken werden Beton, Stahl, Kupfer und jede Menge Seltene Erden benötigt. Dazu kommen die Steigerung der Öl-Gewinnung aus Öl-Sanden und Bohrungen in der Arktis und der Tiefsee. Die Mehrwertkette des regenerativen Imperialismus ist nicht weniger blutig als die in Kolonialzeiten. Die Okkupation der Böden für den Anbau von Pflanzen zur Biogas- und sonstigen Treibstoffproduktion geht auf Kosten der Nahrungsmittelproduktion. Der Chef eines indischen Konzerns verglich den Run auf afrikanische Böden mit dem Goldrausch in Kalifornien. Nur um die vom Klimawandel verursachten Verwüstungen zu kompensieren, kaufen China, Indien, Saudi-Arabien und andere Staaten in Afrika fruchtbare Flächen auf Vorrat. Der regenerative Kapitalismus wird die letzten Freiflächen industrialisieren. Meere, Berge, Wälder, Äcker und Wüsten werden gepflastert mit industriellen Monokulturen, Stromtrassen, Solar- und Speicherfabriken, Windparks, die Unmengen von Beton und Energie verschlingen werden. Für Kabelstrecken durchs Mittelmeer wird man in der halben Welt nach Kupfer baggern. Da kein Windrad, keine Photovoltaik-Anlage, kein Hybrid-Antrieb, kein E-Mobil ohne Seltene Erden auskommt und China deren Monopollieferant ist, werden Afrika, Osteuropa, Australien und Kanada umgegraben. Um sich aus den Klauen Chinas zu lösen, hat Deutschland bereits langfristige Schürfrechte mit der Mongolei und Kasachstan vereinbart.

Der Zwang zur grünen Revolution ist groß, weil die Nachindustrialisierung der halben Menschheit sich auf der bisherigen stofflichen Basis nicht bewältigen läßt. Das weltweite Industriepotential wird sich in 20 Jahren verdoppelt haben. Bei drei Milliarden neuen Autos aber versagen Rohstoffnachschub, Klima und Böden. Da von der Umstellung auf sanfte Energie zu sprechen, ist bloß ein Werbetrick. Der grüne Kapitalismus entfernt sich von der Betonindustrie der sechziger Jahre, indem er sie verdoppelt. Die Millionen Arbeitskräfte, die in China Staudämme bauen, erinnern an den Eisenbahnbau durch die Rocky Mountains oder in Sibirien. Zu befürchten ist, daß der grüne Kapitalismus, einschließlich der Reaktivierung der Kolonialsysteme, eine größere moralische Legitimation erhält als bisherige Akkumulationstypen, weil er sich als Retter der Menschheit anbietet. Den Antagonismus symbolisiert im Kleinen Baden-Württemberg. Zum ersten Mal wird ein grüner Politiker deutscher Landesvater, gleichzeitig wird in Stuttgart der alte Bahnhof abgerissen für die Totalbetonierung der Innenstadt.

No way out? Die Frage könnte auf eine andere Antwort zusteuern, als bisher debattiert. Man sollte nicht ausschließen, daß die Potenzierung der Naturkatastrophen zur größten Krise des Kapitalismus wird. Im Kapitalismus verspricht die „Vernichtungsfähigkeit“ des Menschen „so groß zu werden, daß – wenn diese Art sich einmal erschöpft hat – Tabula rasa gemacht ist. Entweder zerfleischt sie sich selbst, oder sie reißt die gesamte Fauna und Flora der Erde mit hinab, und wenn die Erde dann noch jung genug ist, muß (...) die Chose noch einmal anfangen“ (Theodor W. Adorno).

Griechischer Wein

Das Bewußtsein, das die Welt verändert, sucht man in populären Bewegungen vergebens. Die Reduktion der Kapitalismuskritik auf die Banken, wie sie bei Occupy und linken Parteien vorkommt, adelt die kapitalistische Ausbeutung in Fabriken und teilt den Kapitalismus unwissenschaftlich in einen bösen raffenden und guten schaffenden (was noch stets auf den Juden als Verursacher des Unheils hinausläuft). Das Bewußtsein ist durch die Macht des beschleunigten Faktischen schwer in Mitleidenschaft gezogen. Auf das allseits praktische Denken für den Alltagszweck programmiert, erhebt es sich kaum über die Reproduktion desselben. Die Philosophie des Marktes tut das übrige. Ihr Credo lautet: Das Starke merzt in permanenter Konkurrenz das Schwache, das Unproduktive aus. Da dieses Gesetz das Miteinander von Unternehmen, Staaten und Individuen regelt, wird man kaum erwarten können, daß Kids, die in Verhältnissen aufwachsen, in denen der Siegerstaat den Verliererstaat ausplündert, ihn demütigt und amtlich beherrscht, auf die Handys der schwächeren Zeitgenossen Rücksicht nehmen. Daß, alles in allem, nur wenige Kids ihre Zeitgenossen erpressen und erschlagen, zeigt an, daß der Mensch vielleicht doch besser ist als das System, in dem er lebt. Fast schon revolutionär wäre es, wenn das System nicht nur wegen seiner Krisen kritisiert würde, sondern wegen seines Normalbetriebs. Hier kündigt sich die nächste Verblendung an: Mit der grünen Industrie wird die menschliche Verdinglichung vollendet. Wer ein E-Auto fährt, sein Geld mit Solardächern vermehrt und als Umweltblockwart seine Nachbarn drangsaliert, wird als guter Mensch gelten.

Kritisches Bewußtsein hat sich heute am Umgang mit der „griechischen Krankheit“ zu messen, am Umgang mit Gesang, Tanz, Herzlichkeit und dem offenen Haus, mit der fehlenden Ehrfurcht vor der Arbeit, dem Staat und dem Sparen. Angela Merkel, die Repräsentantin des neuen Preußen-Europa, das sich, von Deutschlands Macht erzwungen, der Haushaltsdisziplin und Askese verpflichtet, schimpfte mit den Griechen: „Ihr müßt sparen, ihr müßt redlich werden, ihr müßt euch ehrlich machen!“ Sie drohte damit, den Griechen das Stimmrecht in der EU zu entziehen und ihnen einen Aufseher vor die Nase zu setzen. Deutsche, die den Griechen ihre Lust und Laune übelnehmen, verstehen nicht, daß die Immunisierung gegen die „griechische Krankheit“ ihnen das eigene Leben austreibt, um sie für die Vergesellschaftung der Schulden zu präparieren.

Die emanzipierte Gesellschaft müßte sich vom Marktdarwinismus und von der blinden Dynamik, die dafür sorgt, daß sich alles Denken auf den nächsten praktischen Vorschlag ausrichtet, lösen. „Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen“ (Adorno). Adorno formulierte das radikale Motiv, den Kapitalismus zu beseitigen, als er das Subjekt ins Verhältnis zur organischen Zusammensetzung des Kapitals setzte. Entscheidend sei „die organische Zusammensetzung des Kapitals. Darunter verstand die Akkumulationstheorie ‚das Wachstum in der Masse der Produktionsmittel, verglichen mit der Masse der sie belebenden Arbeitskraft’ (Marx).“ Wenn die Subjekte immer rigider als bloße Teilmomente vom Gesamtbetrieb vereinnahmt werden, setze „die ‚Veränderung in der technischen Zusammensetzung des Kapitals’“ sich in den Menschen fort. „Es wächst die organische Zusammensetzung im Menschen an. Das, wodurch die Subjekte in sich selber als Produktionsmittel und nicht als lebende Zwecke bestimmt sind, steigt wie der Anteil der Maschinen gegenüber dem variablen Kapital.“ Dieser Befund läßt sich populärer ausdrücken. Gleichviel: Ohne den Wunsch, diese Verkettung aufzuheben, gibt es keinen Kampf um ein besseres System.

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