Deutschland in der Zeitenwende (Auf die falsche Pipeline gesetzt)
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Der russische Überfall auf die Ukraine zeigt, wie angreifbar die deutsche Wirtschaft bei weltpolitischen Konflikten ist. Die Bevölkerung soll Opfer bringen, damit die Industrie die Krise übersteht.
Bundeskanzler Gerhard Schröder schwebte Großes vor, als er Anfang des Jahrtausends mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin die sogenannte Achse Paris-Berlin-Moskau propagierte. Doch statt Berlin als Hauptstadt einer neuen eurasischen Weltmacht präsentieren zu können, schlitterte Deutschland in die energiepolitische Abhängigkeit von Russland. Putins Überfall auf die Ukraine, der zugleich eine Kriegserklärung an den Westen ist, rückte die strategischen Schwachstellen Deutschlands ins Bewusstsein. Für die Realisierung von Imperiumsphantasien fehlen dem Land die Rohstoffe, es besitzt keine kriegsfähigen Streitkräfte, produziert zu exportlastig und hat nicht einmal eigene Flüssiggasterminals, um, da Russland den Gashahn immer weiter zudreht, Energie per Schiff einzukaufen. Schuld an der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen sind das dem Kapitalismus innewohnende Profitstreben und der trügerische Glaube, dass imperialistische Kriege der Vergangenheit angehörten.
Die Bundesrepublik strebte gleich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder nach den Rohstoffen im Osten. Diesmal ohne Militär – „Erdgas gegen Röhren“ hieß die Zauberformel. Die erste Geschäftsanbahnung zwischen der Sowjetunion und Deutschland wurde Ende 1962 durch ein auf US-Betreiben verhängtes Handelsembargo für Großröhren blockiert. Ludwig Erhard (CDU) hob das Embargo 1966 auf, das den Bau der Pipeline „Freundschaft“ nur verzögert, aber nicht verhindert hatte, und so konnte die SPD-FDP-Koalition unter Willy Brandt ab 1970 das sogenannte Erdgas-Röhren-Geschäft realisieren. Die Stahlunternehmen aus dem Ruhrgebiet, Hoesch, Mannesmann und Thyssen lieferten Rohre für die „Transgas-Pipeline“ und ab 1973 strömte russisches Erdgas in die BRD. Jimmy Carters Versuch, das deutsche Energiegeschäft mit der Sowjetunion zu unterbinden, wurde von Helmut Schmidt (SPD) schon nicht mehr ernst genommen: „Wer Handel miteinander treibt, schießt nicht aufeinander“, sagte Schmidt – eine Fehleinschätzung. 1982 belegte Ronald Reagan deutsche Firmen, die in Geschäfte mit der Sowjetunion verwickelt waren, mit Sanktionen, die aber ohne Wirkung blieben. Und so hatte Deutschland sich geschäftlich von den USA emanzipiert und war in die Abhängigkeit von sowjetischen Öl- und Gaslieferungen geraten.
Putins Krieg gegen die Ukraine gab in Deutschland den Anstoß, auch über die Abhängigkeit von China nachzudenken. Westliche Firmen, die in China produzieren, „spielen hektisch Szenarien über einen möglichen Militärkonflikt um Taiwan durch“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung am 24. Juli. Deutschland ist von beiden Ländern abhängig, aber auf unterschiedliche Weise. Öl und Gas kann man woanders kaufen, wenn auch zu höheren Preisen. Die Überschätzung von Putins Eskalationsbereitschaft spiele diesem in die Hände, sagt Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Interview mit dem Sender NTV, denn letztlich kalkuliere auch Putin rational seine eingesetzten Mittel. Durch einen sofortigen Stopp der Gaslieferungen würde Russland seine eigenen Einnahmen verlieren, deshalb verfolge Russland die Strategie einer allmählichen Reduzierung.
Die Deckungslücke, die bei einem Totalausfall russischer Gasimporte entstünde, wäre durch Zukäufe, innereuropäische Umverteilung und Einsparungen zu kompensieren. Dagegen wäre ein tiefgreifender Konflikt mit China für Deutschland schwerwiegender, die wirtschaftlichen Verflechtungen sind tiefer und vielschichtiger. Volkswagen beispielsweise betreibt in Russland zwei und in China 33 Werke. Zum anderen würde der Bruch mit China das westliche Gesellschaftsmodell insgesamt erschüttern, weil unzählige konsumtive Bedürfnisse ohne die dortige Billigproduktion nicht zu befriedigen wären. China wird wiederum seine Industrieproduktion, die auf westliche Absatzmärkte angewiesen ist, kaum für eine ökonomisch weniger lukrative Allianz mit Russland aufs Spiel setzen – die Eroberung Taiwans hat jedoch in der Volksrepublik eine andere Priorität.
Seit Jahrzehnten verschieben sich die ökonomischen Gewichte auf der Welt. Vor 30 Jahren kontrollierten die heutigen G-7-Staaten 70 Prozent der Weltwirtschaft, heutzutage sind es nur noch 43 Prozent. Der hohe Kapitalstock des Westens vermehrt sich nur noch mühsam, China akkumuliert in hohem Tempo und pocht auf seinen „rechtmäßigen Platz in der Welt“, so Staatspräsident Xi Jinping, Russland will seinen Niedergang durch Krieg und Landraub aufhalten. Mittlere Mächte streben nach regionaler Hegemonie oder deren Führungspersonal spielt verrückt, so wie Recep Tayyip Erdoğans Koalitionspartner Devlet Bahçeli von der rechtsextremen MHP, der ankündigt, dass die Türkei sich über 20 griechische Inseln holen werde, darunter Kreta, Lesbos und Rhodos, „ob aus freien Stücken oder mit Gewalt“. Ein russischer Sieg in der Ukraine würde als Schwäche der westlichen Staaten und der Demokratie interpretiert werden und aggressive Staaten zu Übergriffen ermuntern.
Davon unabhängig läutet Putins Krieg eine neue Epoche der Ost-West-Konfrontation ein, die konfliktreicher sein könnte als die alte Blockkonfrontation. Mit dem Ende der russischen Energielieferungen in die EU käme es zur ökonomischen Trennung der beiden Einflusssphären, und die russische Führung annonciert weitere Kriege gegen frühere Sowjetrepubliken und die Zurückdrängung der „liberal-kosmopolitischen Dekadenz des Westens“. Putin will vernichten, was seine autoritäre Ordnung deklassiert. Außenminister Sergei Lawrow erklärte kürzlich, Russland strebe die Eroberung der ganzen Ukraine an, um den "Regimewechsel" herbeizuführen. Das Putin-Regime kann nicht mit einer Spaltung in einen kleineren russischen Sektor und eine autonome Ukraine leben, wie Appeaser sie oft vorschlagen, weil es dann dauerhaft mit einem demokratischen, im westlichen Bündnissystem verankerten Gegenmodell konfrontiert wäre. Nur ein demokratisches Russland könnte das aushalten. Deshalb wird das Putin-Regime den Abnutzungskrieg fortführen und den Oligarchen-Kapitalismus auf Kriegswirtschaft umstellen, was Russlands Niedergang beschleunigt. Die russische Automobilindustrie ist bereits zusammengebrochen, und das Sozialprodukt wird voraussichtlich 2022 um zehn Prozent sinken.
In der Erkenntnis, dass es einer militärischen Drohkulisse und einer geschlossen agierenden EU bedarf, um irgendwen zu beeindrucken, strebt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nun eine „geopolitische EU“ an, in der die Militär- und Außenpolitik nicht durch nationale Vetorechte blockiert werden kann. Die Realisierung seines Vorschlags liefe vermutlich auf eine zweite EU, in der sich die militärisch Kooperationswilligen sammeln, neben der alten Binnenmarkt-EU hinaus. Parallel dazu lässt Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) erstmals eine „Nationale Sicherheitsstrategie“ erstellen, mit klaren Feindbildern. Russland bezeichnet sie als „die größte akute Sicherheitsgefahr“ und China als die perspektivisch „größte Gefahr für uns“. Der Zusammenprall mit China werde kommen, wenn China Taiwan überfällt oder den „freien und offenen Pazifik“ schließt, so Baerbock.
Gedeckt durch eine Propaganda, die die Inflation wie ein Mysterium behandelt und nicht als Preistreiberei des Kapitals, erhöhen ausländische Gaslieferanten durch ihre hohen Preise ihren Anteil an den Profiten deutscher Firmen und erhöhen deutsche Firmen die Preise noch einmal, um Löhne, Renten und Ersparnisse für die Kapitalbildung abzuschöpfen. VW-Vorstandsvorsitzender Herbert Diess meldete vor seiner am 22. Juli bekannt gegebenen Abdankung: „Wir verdienen so viel wie nie – trotz Halbleitermangel und stockenden Lieferketten“, Ölkonzerne verdreifachten ihre Gewinne, Stahl- und Baustoffunternehmen melden eine Gewinnexplosion. Wenn Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sagt: „Wir werden den Wohlstand erst mal verlieren“, meint er, dass die Bevölkerung ihn zugunsten der Kapitalbildung verlieren soll.
Eher als Panikstimmung ist in der deutschen Bevölkerung Fatalismus zu bemerken. Die große Mehrheit ist bereit, „wirtschaftliche Lasten zu akzeptieren“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck teilt nicht „die düsteren Prognosen, dass wir im Winter Unruhen auf den Straßen haben werden“. Er habe Vertrauen zu Habeck, der so wunderbar erklären könne, "warum wir auf ein paar Träume verzichten“ sollten. Nicht nur auf Träume. Habeck rät Familien, es ihm gleichzutun und „kürzer zu duschen“. In anderen EU-Staaten werden Energiepreise gedeckelt und Kriegsgewinne besteuert. Das lehnt Habeck für Deutschland strikt ab. Die Leute sollen entbehren, sonst wäre das Signal laut Habeck: „Energie ist nicht wertvoll, haut raus, was ihr wollt.“
Vielleicht werden bei weiter steigenden Preisen die verschwörungsgläubigen Milieus und Leute vom Wagenknecht-Flügel der Linkspartei um die Häuser ziehen und Russengas fürs Vaterland fordern. Klaus Ernst plustert sich auf als Retter der deutschen Industrie, er will sie vor den „verheerenden Folgen“ der Sanktionen schützen, Oskar Lafontaine hält Gas aus Russland für „die beste und günstigste Ware“. Dass mit den Einnahmen die Zerstörung der Ukraine finanziert wird, schert sie nicht. Antiamerikanismus mischt sich mit dem nationalen Weckruf, das Beste für das deutsche Kapital und das Volk zu wollen. Ihre Mobilisierungsaussichten sind aber so dürftig wie beim missglückten Projekt „Aufstehen“, weil die AfD immer schon da ist. Zu hoffen wäre, dass Linke es dagegen schaffen, gemeinsam mit ukrainischen Genossinnen gegen den Aggressionskrieg und gegen die Beseitigung der vielfältigen Emanzipationsbestrebungen durch eine Putin-Diktatur und zugleich gegen den Kapitalismus, der den Krieg nutzt, um zu den Klassenverhältnissen der fünfziger Jahre zurückzukehren, zu mobilisieren.
Der Artikel erschien unter der Überschrift „Auf die falsche Pipeline gesetzt“ in Jungle.World Nr. 30, 28.07.2022