Die Ampel-Koalition: Zumutung mit Ansage
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Eine Ampelkoalition wird immer wahrscheinlicher. Die Herz-Jesu-Bruderschaft der Marktradikalen und Ökologen soll die industrielle Erneuerung voranbringen.
Nach der Bundestagswahl kann man konstatieren: das gesellschaftliche Bewusstsein hat sich nicht weiterentwickelt, aber volatiler und im Südosten der Republik faschistischer geworden ist es. Annalena Baerbock kann tausendmal wiederholen, der „Volkssouverän“ habe der Politik den Auftrag erteilt, die Schöpfung zu retten; in Wahrheit hat er sich mehrheitlich mit den Manieren der Kandidatinnen und Kandidaten beschäftigt. Armin Laschet hätte im Kreis der Familien, die um Eigenheime und Verwandte trauerten, nicht kichern dürfen. Olaf Scholz kam gut an, weil ihm die gespielte Amnesie bei Fragen nach seinen Kontakten zu Cum-Ex-Bankern als Souveränität ausgelegt wurde. „Olaf klingt schon wie Helmut Schmidt,“ begeistert sich der SPD-Linke Axel Schäfer. Hätte Scholz in der Nase gebohrt, wäre die SPD durchgefallen. Hätte Baerbock nicht so viel plagiiert, wären die Grünen stärkste Partei geworden. Es sei denn, die Union hätte Markus Söder (CSU) nominiert. Alles hing am seidenen Faden belangloser Personalentscheidungen.
Man kichert nicht, wenn Familien um Eigenheime und Verwandte trauern
Am Ende bevorzugte der Souverän den skandalbehafteten Scholz (Brechmitteleinsatz, Wirecard, Cum-Ex) und wohl auch die Ampelkoalition (SPD, Grüne, FDP). Laut dem RTL/NTV-Trendbarometer wünscht sich mehr als die Hälfte der Wählerschaft eine Ampelkoalition unter Führung der SPD, nur 22 Prozent wollen eine Jamaika-Koalition (Union, Grüne, FDP). Selbst die Wirtschaft bezweifelt, ob der Ausstieg aus der fossilen Epoche und die Modernisierung der Industriekultur gegen 80 Prozent der Bevölkerung gelingen könnte, und das mit einer Union, die sich selbst für einen „unsortierten Haufen“ (CDU-Präsidiumsmitglied Daniel Caspary) hält. Die Wirtschaftswoche ließ 1 500 Manager befragen. 45 Prozent wollen die Ampel-, 30 Prozent die Jamaika-Koalition. Christian von Stetten, Vorsitzender des Parlamentskreises Mittelstand in der Unionsfraktion, fordert sogar den Rücktritt des gesamten CDU-Präsidiums, weil es Laschet „in diese chancenlose Kandidatur getrieben hat“.
Im Unterschied zu dem Chaos in der CDU werden SPD und Grüne von einer gespenstischen Disziplin heimgesucht. Jusos schwören auf Scholz, obwohl dieser als Hamburger Innensenator die gewaltsame Verabreichung von Brechmittel zur Sicherstellung von Drogen eingeführt hatte – was der Europäischen Gerichtshof als „Foltermethode“ einstufte. Bei den Grünen wird nicht diskutiert, sondern gehuldigt. Jürgen Trittin schleimt, Baerbock habe für uns alle „gelitten“: „Du hast unseren Anspruch (…) auch um den Preis der Diffamierung deiner Person durchgestanden.“
Die neue Regierung hat die gesellschaftlichen Folgen einer tiefgreifenden Modernisierung des Kapitalismus zu ordnen. Die Klimaschäden, die das Profitregime bedrohen, fallen zusammen mit der aus Sicht der Wirtschaft überfälligen Revitalisierung der Kapitalakkumulation in den Zentren und zahlreichen High-Tech-Erfindungen. Bisher reagierte das Kapital auf die europäische Stagnation mit einer Flucht nach Asien, nun wird dem Zentrum eine Radikalkur verpasst. Der Kapitalismus steigert seine Profitabilität durch die Erneuerung seines dinglichen Kapitals (Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, 5G). Geräte und Fahrzeuge werden in die Lage versetzt, miteinander zu kommunizieren, Sensoren in selbstfahrenden Autos messen das Tempo, lesen Verkehrsschilder, stimmen sich mit anderen Autos ab. In „schlauen“ Fabriken werden kommunizierende Geräte Menschen ersetzen. Für die Erneuerung muss die halbe Welt nach seltenen Erden und Metallen umgegraben werden.
Die industrielle Erneuerung und die Herz-Jesu-Bruderschaft der Marktradikalen und Ökologen
Der Umwandlungsprozess ist kompliziert. Bei jeder industriellen Revolution verliert das Altkapital über das physische Altern hinaus an Wert, weil es durch die neuen Apparate schneller veraltet. Der Wertverfall des alten darf nicht größer sein als der Wertzuwachs des neuen Kapitals, sonst fällt die Wirtschaft in eine Rezession und die Finanzierung der Transformation ist gefährdet. Außerdem erfolgt in solchen Epochen eine Umlenkung von Wert aus dem Konsum in die Investition, die sozialpolitisch abzufedern ist. Christian Bruch, Vorstandsvorsitzender von Siemens Energy, pocht auf „Ehrlichkeit“: „Die Transformation wird schmerzhafte Einschränkungen mit sich bringen und (…) Arbeitsplätze kosten – trotzdem muss es uns gelingen, die Menschen auf dem Weg mitzunehmen, sonst wird die Zeche für die nachfolgenden Generationen noch teurer“. Auch Robert Habeck sah schon vor Monaten bei der Vorstellung des grünen Wahlprogramms eine „große Herausforderung, ja Zumutung“ auf die Menschen zukommen.
Die Verantwortung für die Auffrischung des Kapitals und die Abwicklung der Zumutungen übernimmt die neue Herz-Jesu-Bruderschaft der Marktradikalen (FDP) und Ökologen (Grüne). Die Grünen setzen sich verbal an die Spitze der Modernisierung, die der Kapitalismus ohnehin betreibt, propagieren ihn als Klimaschutz und überlassen der SPD die Sicherung der Renten und der FDP die Digitalisierung – zur Freude von Christian Lindner, der im Netz den jugendlichen Influencer spielt. Für die Befriedung der Gesellschaft ist die grüne Propaganda, die den neuen Akkumulationstyp als Beitrag zur Rettung des Planeten preist und die Sozialisierung der Kosten in einen biblischen Schöpfungsmythos einwebt, von unschätzbarem Wert.
Die Ampelparteien liegen aber in wesentlichen Fragen noch weit auseinander. Etwa in der Staatsfrage. Die Grünen fordern für die „ökologische Transformation“ 500 Milliarden Euro, für die der hoch verschuldete Staat neue Kredite aufnehmen oder die Steuern erhöhen müsste. Beides lehnt die FDP strikt ab. Für Marktradikale hat nicht der Staat, sondern ein von der Demokratie befreites Unternehmertum die Investitionen zu regeln. SPD und Grüne sind keine Freundinnen des „Nachtwächterstaats“, sie unterwerfen sich aber insoweit dem Diktat des Marktes, als sie das Kapital nicht durch Verbote, Auflagen oder Anordnungen zwingen wollen, einen Teil des durch angewandte Arbeitskraft erwirtschafteten Werts für grüne Investitionen abzuzweigen. Sie belasten lieber die Gesellschaft mit CO2-Sondersteuern und dem Emissionshandel, die beide Transport- und Heizkosten hochtreiben und Mieten und Lebensmittel verteuern. „Es gibt keine Freiheit, solange jedes Ding seinen Preis hat“ (Adorno, Minima Moralia S. 289).
Beim Emissionshandel dürfen Firmen sich an der Börse gegenseitig Verschmutzungsrechte abkaufen. Wer durch eine hohe Ausbeutungsrate hohe Gewinne erzielt, kann sich viele leisten und folglich die Umwelt verdrecken. Ausbeutung soll sich lohnen. Das System gibt es in der EU seit 2005. Da EU-Staaten auf den Trichter kamen, Zertifikate an nationale Unternehmen zu verschenken, um ihnen Vorteile zu verschaffen, die Firmen aber den fiktiven Wert der Gratispapiere auf die Preise aufschlugen, wurden die Zertifikate zunächst „zur größten Gelddruckmaschine für die Wirtschaft Europas“, wie das Online-Magazin Klimaretter.2008 urteilte. Inzwischen steigen die Emissionspreise deutlich, doch für das Ziel, die Erderwärmung nicht stärker als 1,5 Grad im Vergleich zur Periode vor der Industrialisierung steigen zu lassen, reicht das wohl nicht aus.
Ebenso wenig wie die Verteuerung der Kraftstoffe. Im Klimaschutzgesetz von 2019 beschloss die große Koalition einen CO2-Preis von 25 Euro pro Tonne, der seit diesem Jahr den Kraftstoff teurer macht. Ein Liter Superbenzin verteuert sich zunächst um sieben bis acht Cent, bis 2025 sollen es bis zu 16 Cent sein. Der Literpreis wird heute bereits mit etwa 87 Cent Energie- und Mehrwertsteuern verteuert, ohne dass Autos in der Garage bleiben. Von 1990 bis 2020 hat sich der Preis für einen Liter Benzin mehr als verdoppelt, gleichzeitig stiegen die gefahrenen Pkw-Kilometer von 432 auf 645 Milliarden. Die CO2-Bepreisung ist eine konsumabschöpfende Staatseinnahme, sonst nichts. Die FDP wird nichts dagegen haben, die Staatsverschuldung über CO2-Bepreisungen in den Griff zu bekommen.
„Das Ding ist noch lange nicht in trockenen Tüchern“, sagt Habeck. Mag sein. Die Parteien liegen bei der Schuldenbremse und den Steuern, bei dem Mietendeckel, den Renten und dem Mindestlohn auseinander (fast 18 Prozent der Erwerbstätigen – acht Millionen Menschen – verdienen weniger als die zwölf Euro pro Stunde, die Grüne und SPD in ihren Wahlprogrammen stehen hatten). Lindner will die Altersversorgung über die „Aktienrente“ in ein Spekulationsobjekt verwandeln. In der Außenpolitik wettern Grüne gegen Russland und China, die anderen aus Geschäftsinteresse eher weniger. Aber drei Dinge sprechen für das Gelingen der Ampelkoalition. Erstens ist kaum zu erwarten, dass die Union ihre Inventur bald erledigt haben wird. Zweitens: Wenn die FDP bei ihren roten Linien bleibt, droht eine Große Koalition, für die der volatile Souverän sie verantwortlich machen würde. Drittens fürchtet die Wirtschaft um den Betriebsfrieden, wenn der Staat den tiefgreifenden, viele Menschen entwurzelnden Umwandlungsprozess gegen die Wunschkoalition der Gesellschaft durchsetzen müsste – mit einer konfusen Union, die in neuen Umfragen sogar ihr äußerst schlechtes Wahlergebnis noch unterbietet.
Veröffentlicht: Jungle World 41, 14. Okt. 2021