Die Grünen – die Volkspartei der neuen technischen Revolution
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"Früher wählten die Ehefrau und die Kinder des Unternehmers grün, während er für die CDU gestimmt hat, heute wählt auch der Firmenboss grün", sagt Cem Özdemir. Wohl nicht jeder. Der badische Fabrikant Martin Herrenknecht, dessen 3.000 Leute Tunnelvortriebsmaschinen bauen, war nach der Prognose zum Ausgang der Landtagswahlen in Baden-Württemberg dem Herzinfarkt nahe. Anders Hans-Jochen Beilke, Chef von "Mulfinger", der mit Elektromotoren und Ventilatoren über eine Milliarde erzielt. Er genoß den Abend, weil er hofft, daß neue Stromnetze und Speicher ihm Aufträge bescheren. "Das kann niemand besser beschleunigen als die Grünen", sagt er. Ausgerechnet in Baden-Württemberg, dem Bundesland mit dem höchsten Industrieanteil, dessen Wirtschaftsleistung Polen oder Österreich übertrifft, wird es den ersten grünen Ministerpräsidenten geben. Damit bricht eine neue Epoche an. Der Aufstieg der Grünen von der ideellen zur gewählten Volkspartei fällt zusammen mit dem Beginn der nächsten technischen Revolution, die - als Reflex auf die verzehrende Schadensdynamik des alten Kapitalismus – Meere und Wüsten industrialisieren, Freiflächen mit Stromtrassen, Speicher und Monokulturen überziehen, grüne Bildungsbürger, grüne Mittelständler, grüne Industrielle, Grünhelm-Soldaten, ein grünes Industrie- und Landproletariat hervorbringen wird.
Einige Zahlen und Meldungen, die das Malheur beschreiben: Die schadensrelevanten Überschwemmungen haben sich seit 1980 verdreifacht (allein "Kathrina" kostete über 100 Milliarden Dollar). Einer der führenden Hightech-Staaten reagiert absolut hilflos auf einen Industrieunfall, der russische Präsident bietet 130 Millionen Japanern den Umzug nach Sibirien an, wo eine Menge Rohstoffe auf ihre Hightech-Köpfe warten. Am 25. Jahrestag von "Tschernobyl" dankte der Bundestag den "Liquidatoren" dafür, daß sie sich für Europa geopfert hätten. Was hätte Friedrich Engels notiert, wenn er bei der Analyse der arbeitenden Klassen in England auf 800.000 todgeweihte "Liquidatoren" und 350.000 Zwangsumgesiedelte getroffen wäre - wegen des Unglücksfalls in einer Fabrik? Die Dimension der Katastrophen und das allseits praktische Bewußtsein, das nicht philosophieren will, sondern nach der nächsten zweckmäßigen Lösung sucht, fördern gemeinsam die Anpassungsbereitschaft für die Umrüstung des investiven Sektors, die auf eine Kapitalbildung zu Lasten des Konsums hinausläuft. Das ist neu in der Geschichte. Früher reagierte das gesellschaftliche Bewußtsein ängstlich auf technische Revolutionen, fürchtete sich vor dem Tempo der Eisenbahn und all den Neuerungen. Heute fürchtet es sich vor dem Alten und sehnt das Neue herbei, dessen politischer Überbau die Grünen sind.
Die Modernisierung bildet den historisch-materialistischen Kern des grünen Aufstiegs. Das eine Prozent, das sie in Baden-Württemberg vor der SPD landeten, haben sie jedoch einer Reihe von Besonderheiten zu verdanken. Da ist Winfried Kretschmann, der Landesvater, der im Chor Baß singt und auf Schützenfesten zum Meisterschuß anlegt wie der Held in Webers "Freischütz" ("Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen?"), der auf Fronleichnamprozessionen dem Marien-Bildnis hinterhertrottet und neben Erwin Teufel (CDU) im Zentralkomitee der Katholiken sitzt. Eine solche Versöhnung einer relevanten Zahl von Katholiken mit den säkularen Besserverdienern, der wahlsoziologischen Basis der Grünen (und der FDP), wird den Grünen nicht überall gelingen. Sogar die Jugend lehnte sich nach der Enttäuschung mit ihrem flotten Guttenberg wieder an einen Großvater-Politiker an, und der Verband der Maschinen- und Anlagenbauer bescheinigt ihm "hervorragende Mittelstandskenntnisse".
Und da war der Runde Tisch zu "Stuttgart 21", der sich als eine von Heiner Geißler moderierte Wahlkampfshow der Grünen entpuppte. Der smarte grüne Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer ("unsere Themen sind längst hegemonial geworden"), rechnete allen vor, was es mit Bahnhof, Güterverkehr, Zeitfenster und Steuergeldern auf sich hat. So einen benötigt die Gesellschaft der praktischen Immanenz, ob bei den Grünen, im Bahn-Vorstand oder beim Projekt "Wüstenstrom". Ein paar Prozente haben die Grünen auch dem Pech und der Dummheit der CDU in Tateinheit mit "Fukushima" zu verdanken. Daß gleich nach der Verlängerung der AKW-Laufzeiten ein AKW in die Luft flog, ist Pech. Dumm war die Verengung des CDU-Wahlkampfs auf die Diffamierung der Grünen als "Dagegen-Partei", während das Dagegen-Sein gerade einen hohen ethischen Rang erklomm, so hoch, daß die CDU noch im Wahlkampf verkündete, sie sei ebenfalls dagegen. Aber ihr Kandidat, Stefan Mappus, roch noch allzu penetrant nach der IG-Bergbau-Architektur der sechziger-Jahre, nach Autobahn, Atommeiler, Braunkohle und blauweiß gekacheltem Hallenbad ohne Pflanzen, das einem Operationssaal zum Verwechseln ähnlich sieht.
Meinungsforscher und Arnulf Baring bastelten an Vorträgen zum Thema "Parteienverdrossenheit", da fegten die Grünen den Verdruß beiseite. Ihre Glaubwürdigkeit stieg auf Werte, die selbst der Bund der Steuerzahler nie erreichte. Nur aus einem diffusen Gefühl heraus. Die Grünen hatten Deutschland in Kriege geführt, Lebensrisiken weiter privatisiert, AKW-Laufzeiten von 32 Jahren und länger (bei der Übertragung von Strommengen) vereinbart. Sie verzichteten auf höhere Sicherheitsstandards und auf die gesetzliche Verankerung der Ausstiegsvereinbarung, damit spätere Regierungen die Laufzeiten mühelos verlängern könnten. Eine Falle, in die Merkel und Westerwelle prompt tappten. Jürgen Trittin sagte damals, er erwarte nun "ein Abflauen der Proteste", Bärbel Höhn bekräftigte später: "Wir haben mit dem Atomkonsens ein Thema abgeräumt, daß die Republik Jahrzehnte beschäftigte." Die Grünen definierten den Widerstand gegen AKWs also als Störung des nationalen Friedens, aber bei den Leuten blieb so ein Gefühl, daß da mal was war. Neulich wollte Trittin schon wieder, "daß Sie, lieber Herr Röttgen, ... eine Brücke bauen zurück zum Konsens in dieser Gesellschaft". Der nationalbornierte Konsenstrieb sitzt fester als die Alkoholsucht. Aber weil da mal was war, sind die Grünen aus der politischen Klasse herausgefallen, sie gelten heute als Lebensretter, wie das Technische Hilfswerk (THW) mit seinen Spürhunden. Bald werden Wirbelstürme und Meteoriteneinschläge, Überschwemmungen und Mondfinsternisse, Verschiebungen der Erdplatten oder der Erdachse, Erderwärmung oder beginnende Eiszeit, Ozonlöcher und das Wetter sich in grüne Stimmen verwandeln.
Die Grünen sind für die Befriedung im Inneren so wichtig wie die SPD es früher einmal war. Die neue technische Revolution wird nicht "sanft" oder "sicher" sein, wie die Werbung verspricht, sondern viele Verwerfungen produzieren. Sie türmt Kapital auf zu Lasten des Konsums. "Die Verbraucher müssen die Energiewende bezahlen", sagt der haushaltspolitische Sprecher der CDU. Für Bio-Energie werden Mais, Zuckerrohr und andere Monokulturen angepflanzt, die der Ernährung Anbauflächen wegnehmen und Böden vergiften. Für Offshore-Windparks und Solarfabriken wird man eine Menge Stahl, dazu Kohle für Hochöfen, Beton für Fundamente und Türme benötigen. Kabelnetze, die den Strom in den Süden leiten, Pumpspeicherkraftwerke und "zahlreiche Energiespeicheranlagen, groß wie moderne Chemiefabriken" ("FAZ"), werden das Landschaftsbild prägen. Das Konsortium "Desertec" will 400 Milliarden Euro in den Wüstenstrom für die Versorgung Europas investieren. In der Sahara werden Solar- und Windfabriken, Werkstätten, Kühl- und Verkehrssysteme, Wasseraufbereitungsfabriken, Kasernen und Flugabwehrbasen, Wüstenstädte mit Hotels und Bordellen entstehen. In der Wüste herrsche Goldgräberstimmung, sagt ein deutscher Ingenieur in Marokko.
Die Investitionssumme für Hochleistungskabel, die durchs Mittelmeer gelegt werden sollen, und die Verteilernetze quer durch Europa wird auf eine Billion Euro geschätzt. Die anstehenden Investitionen werden einen Ansturm auf Kupferreserven, seltene Erden und andere strategische Rohstoffe auslösen. Man wird halb Afrika, Südamerika und Australien umgraben. Der steigende Meeresspiegel beschleunigt den Bau schwimmender Städte und Fabriken, von Schleusen- und Deichsystemen. Siemens steigt aus dem Atomgeschäft aus und legt sich die Sparte "Infrastructure and Cities" zu, die den Bau "smarter Städte" in Angriff nimmt. Pilotprojekt ist Masdar City in der Wüste von Abu Dhabi, eine Stadt, versorgt mit komplett erneuerbarer Energie, Recycling, Transportkapseln, intelligenter Architektur und Sensorennetzen. Nach "Deutsche Bank Research" müssen bis 2030 weltweit 40.000 Milliarden Dollar in städtische Infrastrukturen investiert werden.
"Was die Wirtschaft betrifft, so kann ich mich in Berlin vor Einladungen von Unternehmern kaum retten", sagt Renate Künast. Der Kapitalismus kennt als Antwort auf Naturkatastrophen nur das Draufsatteln. Der Schaden einer Industrialisierungsstufe ist Anreiz für die nächste. Die Grünen werden als Industriepartei des modernen Kapitals seine Ausbeutung und Expansion, die auf sich nachindustrialisierende Kolosse trifft, begleiten und seine Kriege "ökologisch" segnen. Beim Krieg um das letzte Kupfer oder die Abwehr von Solarpiraterie wird Claudia Roth sagen, es gehe um die Rettung der Welt und besonders der Nomadenkinder. Die Werbung antizipiert die neue Moral bereits: J.R. Ewing steigt von Öl auf Solarenergie um und lacht dabei noch dreckiger als früher: "Shine, Baby, shine." Solange die gesellschaftliche Organisation der Naturumwandlung, die Arbeit, hierarchisch, entfremdet, rücksichtslos dem Leben gegenüber erfolgt, solange das Miteinander im Betrieb und außerhalb diktatorisch und sozialdarwinistisch geregelt ist (die Konkurrenz selektiert Firmen, Staaten und Individuen nach den Kriterien von Stärke und Schwäche), solange reproduziert das Sein die Zerstörung der Natur- und Solidarverhältnisse. Ein sanfter Austauschprozeß, der behutsam mit und nicht blind gegenüber der übrigen Natur wäre, setzte ein ausbeutungsfreies, solidarisches Leben voraus, also die revolutionäre Umwandlung der Verhältnisse.
Die Grünen sind nicht nur politisch dagegen, sie bilden auch das neue stabilisierende Kleinbürgertum, das Gerüst des Staates im Beamtenapparat, in Lehr- und Forschungseinrichtungen, Firmen und Institutionen aller Art. Grüne Kleinbürger verdienen genug Geld, um Bio-Wein aus Südafrika zu beziehen und gegen ökobedingte Preissteigerungen resistent zu sein, sie werden Notverordnungen zustimmen und in ihrem Viertel wie Blockwarte die Nachbarn milde, aber bestimmt darauf aufmerksam machen, daß sie nach falscher Ernährung aussehen, Müll in die falsche Tonne gesteckt und noch immer keine Kinder haben. In einer Forsa-Umfrage von Anfang April kam die CDU bundesweit auf 30 und die FDP auf 3 Prozent, die Grünen lagen bei 28 und die SPD bei 23 Prozent, für die Linke blieben 9. Danach könnten die Grünen den nächsten Kanzler stellen. Aber bis dahin wird noch viel passieren. Kretschmann hat den Kredit von 4,5 Milliarden Euro, den Mappus für den Kauf der französischen EnBW-Anteile aufgenommen hatte, und Schadensersatzforderungen der Bahn AG an der Backe, der Wiederaufstieg von Peer Steinbrück kann nur noch durch Plagiatsvorwürfe gestoppt werden, und die Grünen werden ihren THW-Nimbus mit anderen teilen müssen, denn jede Partei, die den Wunsch der Bevölkerung nach Veränderung ignoriert, "endet wie die Dinosaurier" (Norbert Röttgen).
Rainer Trampert schrieb in KONKRET 4/10 über Skandale in der Politik