Fanal des Hegemons - Über die deutsche Griechenland- und Europapolitik

Europas Hegemon demonstriert seine Macht. Deutschland nimmt Griechenland die Souveränität und lässt die Bevölkerung für Schulden haften, die sie nicht gemacht hat, stutzt ehemals stolze Kolonialisten und Imperialisten auf ihr geschrumpftes Maß zurecht, legt die Axt an Kerneuropa, indem es sich nicht mehr mit Frankreich abstimmt und lässt die USA, die Griechenlands Absturz zum failed state aus geostrategischen Gründen verhindern wollen, abblitzen. Aus dem »Grexit« wurde zunächst nichts, weil die gegnerische Allianz aus USA, Internationalem Währungsfond (IWF), Europäischer Zentralbank (EZB), Frankreich und EU-Institutionen zu stark war.

»Herr Schäuble, Sie sind dabei, die europäische Idee zu verspielen«, mahnte Gregor Gysi. Ist das noch das Europa von Adenauer und Kohl? Ja, durchaus! Adenauer sagte 1962: »Spanien muss wegen seiner Geschichte und seines Beitrags zur europäischen Kultur ein wesentlicher Bestandteil des geeinten Europas sein.« Da war Spanien eine Diktatur unter dem Caudillo Franco. Guernica war im Gedächtnis. Für Adenauer schien also die Diktatur Teil der europäischen Idee. In der Regierungszeit Kohls bezeichnete Frankreichs Präsident Mitterand die D-Mark als »deutsche Atombombe«. Ohne Euro und EZB sei »Europa dem deutschen Willen ausgeliefert«. Europa war und ist ein Konglomerat konkurrierender Nationalstaaten, die ihre Ressentiments als Kultur verbrämen, die unbedingt erhabener sein soll als die amerikanische und auch als die der Nachbarn – plus Binnenmarkt und tödliche Außengrenze. Da der Kapitalismus fortwährend Disparitäten schafft, weil Kapital dahin strömt, wo Profit winkt, zerfällt Europa in Sieger und Verlierer, Gläubiger und Schuldner, Hegemon und Peripherie, in der antieuropäische und antideutsche Stimmungen blühen und jede Volkstanzgruppe eine eigene Nation begehrt.

Barack Obama hatte gemahnt: »Sie können Länder, die sich in einer Depression befinden, nicht weiter ausquetschen« und sie gleichzeitig als Nato-Bastion nutzen wollen. Griechenland liegt nahe der Kriegsherde Libyen, Irak/Syrien, Islamischer Staat (IS), Ukraine, soll gegen Russland stehen und Flüchtlinge abfangen. Die Türkei entfernt sich von der Nato und die Kriege des Südens rücken näher. Der IS dehnt seinen Krieg auf Ägypten aus und beschießt Israel. In Asien greift China nach Meeren und Inseln, die von Nationen beansprucht werden, die mit den USA befreundet sind. Malaysia warnt, dass Chinas »Gebietsansprüche zu einem der tödlichsten Konflikte unserer Zeit eskalieren« könnten. Die USA orientieren sich in Richtung Asien und bauen ihre Präsenz in Europa und im Nahen Osten ab. Deutschland wird ab 2017 aufrüsten und schon aus eigenem Interesse mehr Initiative übernehmen, weil es wegen des Bruchs mit Russland Öl, Gas und seltene Erden aus Afrika und dem Nahen Osten holen muss, wo Saudi-Arabien und der Iran, der über die zweitgrößten Gasreserven der Erde verfügt, Stellvertreterkriege um die regionale Hegemonie führen und der IS sein Unwesen treibt. Das verspricht kriegerischer zu werden als ein Gasabkommen mit Russland.

Im Bundestag dankten die Oppositionsparteien Gott und Frankreich dafür, dass der »Grexit« aus der Welt sei, obwohl er akut bleibt, und kritisierten Schäubles Solo, obwohl er in Zustimmung baden kann. Im Parlament gab es Ovationen für seine Härte. Die Deutschen lieben ihn. Deutsche Volkswirte und viele Euro-Länder wollen den »Grexit«, beispielsweise die Osteuropäer, die durch ihre Weigerung, auch nur einen Flüchtling aufzunehmen, angezeigt hatten, dass sie Menschen in Not nicht helfen werden. Auch Sarah Wagenknecht und Oskar Lafontaine wollen die Rückkehr zu nationalen Währungen, damit die Armenhäuser per Abwertung ihren Export stimulieren könnten, und weil divergierende Staaten nicht unter ein Währungsdach passten. Wagenknecht sagt, es könne »besser sein, die Drachme wieder einzuführen«, und: »Wer die Gründer der AfD als Populisten abstempelt, macht es sich zu leicht«. Seit geraumer Zeit ficht sie voller Pathos für deutsche Steuerzahler. Schäuble verschwende Geld an Griechenland, »für das Millionen hart gearbeitet haben«. Die Querfront in einer Person. Griechenland solle »die Eurozwangsjacke« abstreifen, schreibt die FAZ, um mit der Drachme ein Gemeinwesen aufzubauen, »das selbst für seinen Unterhalt sorgen kann«.

Berlin, Bremen und Ostdeutschland können ebenso wenig für ihren Unterhalt sorgen. Deutschlands Osten liegt beim Selbstversorgungsgrad hinter den italienischen Abruzzen. Man müsste auch Ostdeutschland aus der Euro-Zone werfen, um ihm die Abwertung zu ermöglichen. Dieser immanent logische Gedanke wird wegen völkischer Verwirrung verworfen. Der deutsche Steuerzahler hat bis heute etwa 2.000 Milliarden Euro gezahlt, um Ostdeutschen ein adäquates Leben zu ermöglichen. Die Griechen würden ihn bei einem Totalausfall nur vier Prozent der Ostdeutschen kosten. Die Relation entspricht der nationalen und europäischen Gewichtung in Politik und Gesinnung. Der Steuerzahler kann aber ruhig schlafen. Die Tilgung der griechischen Schulden, für die Deutschland haftet, wurde bis 2057 gestreckt, weil Gläubiger lieber faule Forderungen in den Büchern lassen als Vermögenswerte abzuschreiben. Auf Deutschland käme ab 2020 ein Verlust von ein bis zwei Milliarden pro Jahr zu. Bereits der Zinsvorteil ist höher, viel höher ist die Wertabschöpfung aus Europa, die sich im deutschen Exportüberschuss spiegelt.

Wäre die Abwertung ein geeignetes Mittel, hätte es der DDR blendend gehen müssen, und würde es Menschen in 150 armen Ländern, deren Währungen pausenlos abgewertet werden, gut gehen. Wäre die Angleichung der Wirtschaftskraft ein Kriterium für die Einheitswährung, lebten wir heute noch in Kleinstaaten mit Zollschranken. Wie lange hätte Italien auf die Angleichung von Mailand und Kalabrien warten sollen? Wer die Einheitswährung an der Wirtschaftskraft misst, müsste die Nationen zerlegen und neu zusammensetzen. Eine Währung für Mecklenburg-Vorpommern, Andalusien und Sizilien, eine für Norditalien, Baden-Württemberg und Katalonien. Die Abwertung ist kein geeignetes Mittel gegen Wettbewerbsvorteile durch Arbeitsdisziplin, Lohnstückkosten, Produktivität, moderne Technik, Infrastruktur und Dienstleistungen, Anbindung an Märkte und Fertigungsketten. Außerdem verteuert jede Abwertung die Importe, die »importierte Inflation« treibt die Produktionskosten und die Preise für Exportwaren hoch, so dass die nächste Abwertung bevorsteht. Die Spirale nach unten dreht sich weiter.

Der Kapitalismus merzt von sich aus alles Unproduktive aus, (Schumpeters »schöpferische Zerstörung«), um den Fall der Profitrate zu stoppen. Sofern Abwertungen marode Ökonomien am Leben halten, wächst deren Anteil an der Wirtschaft, die Profitrate sinkt und die Wirtschaftskraft des Raumes wird nach unten gezogen. So gesehen könnten die gelobten »keynesianisch geprägten sozialdemokratischen Jahrzehnte‹ nach 1945« (Elmar Altvater) Europas Krise forciert haben. Für Griechenland, das doppelt so viel importiert wie es exportiert, wäre die abgewertete Drachme eine Katastrophe. Die in Euro abzurechnenden Einfuhren wären unbezahlbar, keine Energie, Ersatzteile, Fahrzeuge, Medikamente – und importiert wird auch die Hälfte der Nahrungsmittel. Die Wirtschaft kollabierte, Hunger und Krankheit breiteten sich aus, es käme zu Parallelwährungen. Rentner, Soldaten, Polizei, Beamte, Arbeitskräfte der lokalen Wirtschaft würde man in Drachmen auszahlen, die den Wert von Lebensmittelmarken hätten, Ärzte, Supermärkte, Vermieter, Tankstellen, Apotheker verlangten Euro. Da die Armee und die Polizei ihrer eigenen Verelendung kaum tatenlos zusehen würden, muss das Grexitprogramm als Spekulation auf den Putsch in Griechenland interpretiert werden.

Die Ursache der deutschen Härte ist eine Mixtur aus deutscher Ideologie, ökonomischen Zwängen und politischem Kalkül. Der Süden war im Bewusstsein des Deutschen stets gleichzeitig ein Paradies und eine Bedrohung – früher seiner Moral, heute seiner Ersparnisse. Der immer strebend sich bemühende Zwangscharakter kommt mit sich eher ins Reine, wenn er die abartig findet, die dem Kapitalismus Leben abtrotzen und einen entspannten Eindruck machen. Sie sollen von der »griechischen Krankheit« befallen sein, nicht wahr, »Yanis Varoufakis, wie ein Rotzlöffel führten Sie sich auf!« (Franz Josef Wagner in Bild). Dazu kommen die Vision vom überlegenen nordischen Stamm, der zu Kopf steigende Hegemonialstatus, die Philosophie vom Recht des Stärkeren und der Hang zur Buchführung. »Ah! Die Akropolis!« sagt der deutsche Volkswirt, sieht aber nur einen Haufen Schulden, »hat hier nicht der Zeus die Europa … « Nein, das war am Strand von Kreta. Die deutsche Hegemonie kam nicht mit dem Euro oder dem Neoliberalismus in die Welt. Ihr Ursprung ist die Arbeit von Millionen Zwangs- und Sklavenarbeitern im NS-Staat. Sie schufen ohne Lohn bis in den Tod ein westdeutsches Industriepotential, das 1948 trotz der Bomben um 14 Prozent größer war als 1935. Da das übrige Europa durch den deutschen Diebstahl und Krieg ruiniert worden war und die Westmächte die Verschuldung des NS-Regimes von 500 Prozent des Sozialprodukts so beseitigten, dass sie nicht wehtat, konnte Franz Josef Strauß schon 1957 melden: »Wir sind die wirtschaftlich stärkste Macht Mitteleuropas geworden. An unseren Kassen stehen die ehemaligen Sieger Schlange. Bei uns sind die alle verschuldet.« Dieser Vorsprung wurde dank der deutschen Attribute: »Arbeitsdisziplin, Präzision und Feigheit vor dem Herrn« weiter ausgebaut.

Deutschland ist aber der Hegemon im Krisengebiet des Weltkapitalismus, das von Stagnation und Zerfall bedroht ist. Das Ziel, zu einer Weltmacht aufzusteigen, lässt sich nur realisieren, wenn es Deutschland gelingt, Europa in ein Profitcenter zu verwandeln, um realen Mehrwert abzuziehen und seine Wirtschaftskraft nicht durch Haftungsverluste und Transfers zu schwächen. Selbst aus Deutschland wandert jedes Jahr Kapital von netto 150 bis 180 Milliarden Euro ins noch profitablere Asien und Amerika ab. Deutschland hält sich an seinen europäischen Nachbarn schadlos (sein Exportüberschuss zeigt die Umschichtung von Beschäftigung, Mehrwert und Steuern nach Deutschland an), der Werttransfer entleert aber zugleich seine Absatzgebiete und untergräbt die deutsche Ökonomie. Das Modell, in dem die Überschusswirtschaft ihren Abnehmern Geld leiht, damit sie ihre Rechnungen bezahlen können, wird kollabieren. Deshalb soll ganz Europa eine auf eigener Mehrwertschöpfung basierende Zahlungsfähigkeit erlangen, soll unproduktives Kapital ausgemerzt (darauf beruhende Einbrüche der Sozialprodukte um 25 Prozent sind Anzeichen der Genesung) und sollen die Lebensrisiken des Kapitalismus privatisiert werden. Damit die politische Durchsetzung nicht gefährdet wird, will Deutschland mit der Demütigung und Zerschlagung von Syriza ein Fanal setzen. Bewegungen, die sich der Sanierung widersetzen (wie Podemos), die mit dem griechischen Experiment sogar Hoffnungen verbunden haben, sollen in einem Realitätsschock erstarren. Spaniens Mariano Rajoy läuft durchs Land und fragt die Leute: »Wollt ihr aus Spanien ein zweites Griechenland machen?«

Nachgeschobene Erkenntnisse

  • Marktwirtschaft ist die Übertragung der Naturordnung »fressen und gefressen werden« auf die menschliche Gesellschaft. Sie selektiert permanent Sieger und Verlierer unter Nationen, Unternehmen und Menschen. Der Sieger darf sich die verwertbaren Reste des Verlierers einverleiben: Technik, Personal, Kunden – Akropolis, Inseln, Piräus.
  • Die linke Befreiungsvision ist zu 95 Prozent bei der Nachfrage zur Steigerung der Unternehmensumsätze, Währungsabwertung und korrekten Verpackungsaufschrift gestrandet.
  • Linke, die den Kapitalismus regierend verwalten, statt ihn zu stürzen, sind nur Spielball der realen Mächte. In Querfrontbündnissen mit Antisemiten und Faschisten beenden sie ihr Linkssein (die Entlassung linker Minister ist konsequent) und fügen der linken Idee weiteren Schaden zu.
  • Deutschland geht über Leichen.

Rainer Trampert schrieb das Buch „Europa zwischen Weltmacht und Zerfall“, Schmetterling-Verlag.
 

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