Guido Westerwelle: „Die Menschen auf der Titanic waren gesund, hatten aber kein Glück“ und andere Worte fürs Poesiealbum
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Unbestreitbar ist Guido Westerwelle eines der letzten Originale, ein Politiker mit Ecken und Kanten, also einer, der das mitbringt, woran es heute in der Politik mangeln soll. Keiner krakeelt so vorlaut und schrill Botschaften in die Welt, die nicht für die Geschichtsbücher taugen („Willst du fit sein auf die Schnelle, komm’ zu Guido Westerwelle!“), keiner stellt die Schmerzunempfindlichkeit des Politikers so klirrend zur Schau und greift derart spendabel in jeden Scheißhaufen, um Prozente zu machen, wie er. Bei allem, was er tat und förderte, bewahrte er aber immer diese Distanz, die ihm den Spielraum ließ, wenn etwas schief ging anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Eine Devise, die ab 6 Prozent aufwärts gut funktioniert, mit der Vision auf 18 Prozent konkurrenzlos ist, bei 3 Prozent aber nicht mehr greift. Sein Abstieg deutete sich an. Wer in den Saal brüllt: „Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt, und der bin ich!“, der pfeift aus dem letzten Loch.
In seinen ersten Amtsjahren wirkte Westerwelle so, als wolle er die FDP zu ihrem Ausgangspunkt zurückführen, zu einer rechten Partei, die als Zugeständnis an die Moderne auf Marschmusik verzichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die FDP ein Sammelbecken für Nazis mit Marschmusik - wie ihre Bruder-Organisation in Österreich bis heute. Sie kämpfte dafür, dass Nazis nach dem im 3. Reich geltenden Gesetz zu beurteilen seien. 1953 erklärte der FDP-Vorsitzende Franz Blücher dann, die FDP sei nicht „komplett“ von Nazis unterwandert. Kurz davor hatte der NRW-Chef Friedrich Middelhauve seinem Referenten, ein SS-Standartenführer, den Auftrag erteilt, so viele Nazis wie möglich in die Partei zu holen. Im selben Jahr beantragte Erich Mende (Frontoffizier, Ritterkreuzträger, später FDP-Vorsitzender) im Bundestag ein „Ministerium für alte Frontkämpfer“. Als Konrad Adenauer ihm daraufhin einen Posten als Militärattaché anbot, sagte Mende nicht ohne Grund: „Er will mich loswerden.“ Die gutbürgerlichen FDP-Granden „Scheel, Genscher, Lambsdorff“ machten dem Spuk dann ein Ende, indem sie die sozialliberale Epoche einleiteten, um den Raum im Osten unmilitärisch für die deutsche Wirtschaft zu öffnen.
Nach einer Durststrecke, für die Namen wie Kinkel und Gerhard stehen, brachte Westerwelle wieder Schwung in den Laden, indem er die Chancen für eine deutsche Haider-Partei auslotete. Als sein Parteifreund Jürgen Möllemann Verständnis „für palästinensische Selbstmordattentäter“ und damit für den Tod von Juden bekundete, und in einer dubios finanzierten Kampagne den Juden die Schuld am Antisemitismus gab, reagierte Westerwelle verständnisvoll. Man dürfe doch wohl Israel kritisieren, es gebe halt einen neuen „jungen Blick auf die deutsche Vergangenheit“. Beide hielten dazu fröhlich ihre Fußsolen mit der Aufschrift: „18 Prozent“ in die Kameras und die „Zeit“ schrieb: „Westerwelle hat Möllemann ... als kybernetische Maus benutzt, ihn ausprobieren lassen, wie weit man auf dem Weg zu den 18 Prozent mit antisemitischen Sprüchen vorankommt.“ Als das Experiment an einer unerwarteten zivilgesellschaftlichen Gegenwehr abprallte, ging Westerwelle dazu über, die Partei für die Machtübernahme junger Sozialdarwinisten zu präparieren. Bei Rösler, Lindner, Bahr und anderen Jungen gewinnt man den Eindruck, dass sie in einem abgeschiedenen Gebirgsinternat von Scientologen, esoterischen Motivationskünstlern, Offizieren und neurolinguistischen Programmierern auf die Politkarriere vorbereitet wurden.
Die sozialliberalen FDP-Chefs wussten noch, dass der Kapitalismus arme Menschen, die er selbst ständig produziert, durchfüttern muss, damit seine Legitimation nicht Schaden nimmt. Die Jungen können nicht begreifen, warum Gutmenschen für arme Leute Kaufhäuser nach Lebensmitteln mit abgelaufenen Daten abklappern. Ihr früherer Tod würde doch die Wertmasse, die sie verbrauchen, ohne selbst Werte zu schaffen, freisetzen für die Umwandlung in Kapital. Als überzeugter Sozialdarwinist wird Westerwelle Verständnis dafür aufbringen oder aufbringen müssen, dass sein junges Gruselkabinett ihn nun davonjagt, auch wenn Daniel Bahr noch Lippenbekenntnisse absondert: „Er gibt die Kapitänsbinde ab, bleibt aber der Stürmer, der für uns Tore schießen soll.“
Sie danken ihm zu laut für das, was er für die FDP getan haben soll, denn der Erfolg der FDP in der letzten Bundestagswahl (14,6 Prozent) lag nicht an Westerwelle, sondern an den Medien, die den Deutschen ein Jahr lang den irrationalen Gedanken eingebläut hatten, eine große Koalition bedeute Stillstand, eine Koalition mit der FDP Erlösung. In den Köpfen setzte sich fest, dass die Union ohne das Korrektiv FDP nicht regieren könne, die Grünen die Wirtschaft kaputt machen würden, die SPD eine Partei der Umverteilung und die Linke DDR-lastig sei, Nazis kamen nicht in Frage, da blieb nur die FDP. Das war insofern erstaunlich, als die Wirtschaftskrise offen gelegt hatte, dass die FDP, die Partei der Wirtschaft, ohne Wirtschaftskompetenz ist. Die Ideologie des automatischen Gleichgewichts durch die Marktkräfte sieht keine Krise vor und so war die FDP während der ganzen Wirtschafts- und Finanzkrise sprachlos.
In der Not bot Westerwelle Steuersenkungen an und beschimpfte Arbeitslose („Es scheint in Deutschland nur noch Bezieher von Steuergeld zu geben, aber niemanden, der das alles erarbeitet“). Eine Reihe von Quacksalbern tingelte los, voran Arnulf Baring und Peter Sloterdijk, um die Mär zu verbreiten, Deutschland verliere ohne Steuersenkungen jede Leistungsbereitschaft und den Anschluss an die Welt. Peter Sloterdijk wollte sogar alle Steuern streichen und Leben und Tod der Einkommenslosen in die Hände irgendwelcher Mäzene legen. Als Wolfgang Schäuble dann erklärte, die Wirtschaftskrise habe die Staatsfinanzen derart in Mitleidenschaft gezogen, dass sie bei der nächsten Steuersenkung kollabieren würden wie in Griechenland, erschraken alle und die „Medien“ kolportierten fortan, die FDP habe nicht mehr alle Tassen im Schrank. Daraufhin erklärten FDP-Wähler ihre Wahlentscheidung postum für einen Irrtum und verlangten Satisfaktion.
Guido Westerwelle wünschte den Bürgern des Landes Gesundheit und Glück zum neuen Jahr. Beides sei wichtig, denn: „die Menschen auf der Titanic waren zwar gesund, sie hatten aber kein Glück.“ Eine Lebensweisheit fürs Poesiealbum. Die Stockholmer „Dagens Nyheter“ schrieb, Westerwelle sei unbeliebt, habe aber Shows abgeliefert, „die manchmal lustig“ waren, „viel zu oft aber wirkte er wie ein Clown“. Ein Unikum war er sicher. Normalerweise können deutsche Außenminister sich der Gunst des Publikums kaum erwehren, weil sie die ganze Nation ohne Ansehen von Personen vertreten. Nur Westerwelle gelang es, unbeliebter zu sein als führende Köpfe der Linkspartei. Das lag nicht an Fehlern in der Außenpolitik, sondern daran, dass er sich ihr zunächst verweigerte.
Statt mit den Staatsmännern der Welt durch Königsberg zu flanieren, betrieb er Innenpolitik. Er wollte immer nur Steuern senken, kam aber über den Obolus an die ihm gewogenen Hoteliers nicht hinaus. Also versuchte er es wieder mit der Beschimpfung der Arbeitslosen. („Wer ist ein Schnorrer, und wer will nur sein Recht? Das ist die Frage in Deutschland“). Auf dem Höhepunkt seiner Kampagne verdächtigte er Arbeitslose, sie würden sich einer spätrömischen Dekadenz hingeben, obwohl die Unterschichten im alten Rom dynamisch den Spartakusaufstand gewagt hatten, statt sich Federkiele in den Hals zu stecken. Allmählich schwante allen, was Westerwelle mit ihnen machen würde, wenn sie einmal Pech im Leben haben sollten. Wenn Westerwelle es einmal mit Außenpolitik versuchte, wurde es oft peinlich. Für den Chef-Diplomaten verbietet es sich, ausländische Journalisten, die englisch sprechen, zu belehren: „Es ist Deutschland hier!“ Der Innenminister und die Ausländerbehörde dürfen das, aber vom Außenminister wird ein gewisses Maß an Weltgewandtheit erwartet.
Die FDP tut sich schwer. Der Liberalismus hatte als Ideologie und Praxis des Bürgertums seine Berechtigung um 1848 und in den Folgejahren. Damals mussten Zollschranken aufgehoben und größere Nationalstaaten gebildet werden, das freie Marktsystem sollte durchgesetzt und der Kaufmann übers Wahlrecht in seinen Stand gehoben werden. Markt, Wahlrecht, Kaufmann, Nation, freier Warenverkehr gibt es heute. Dass Bürger keine Steuern zahlen wollen, wird bis zur Revolution so sein, das Anliegen ist aber beim Bund der Steuerzahler gut aufgehoben. Außerdem kann die FDP es nicht mit dem rot-grünen Steuernachlass für die Wirtschaft aufnehmen. In Wirtschaftsfragen ist die FDP inkompetent, weshalb Kapitalisten und Mittelstand sich Peer Steinbrück (SPD) zurückwünschen oder sich von der grünen Modernisierung Aufträge erhoffen. Und die wahlsoziologische Basis der FDP, die säkularen Besserverdiener, fühlen sich bei den Grünen besser aufgehoben, weil die dafür sorgen, dass sie ihren Stromüberschuss von der Solardach-Villa für gutes Geld in das Gemeindenetz einspeisen und die energetische Erneuerung ihrer Häuser absetzen können.
Wie Guido Westerwelle seinen Abschied vom Parteivorsitz inszenierte, war dann wieder originell. Er wolle (als 49-jähriger Politiker) das Amt abgeben, um „für einen Generationswechsel zu sorgen“. Das sah Konrad Adenauer mit 90 noch nicht ein, obwohl die nächste Politikergeneration um die 70 war. Aber ein Vermächtnis hat Westerwelle uns hinterlassen: Nie darf ihm sein Versuch, mit Antisemitismus Wahlerfolge zu erzielen, vergessen oder gar verziehen werden - schon wegen der Wiederholungsgefahr nicht.