Jakob Augstein und die große Heimsuchung

Große Erregung! Überall drängeln sich wieder deutsche Kronzeugen, die Deutschen eine tadellose Gesinnung bescheinigen. Nach 1945 mussten sie für die „Persilscheine“ auf dem Schwarzmarkt Geld berappen. Heute gibt es sie umsonst und in jeder Menge. Die Zeit fragt, ob sie „durchdrehen: Israel und seine Lobby“? Die Süddeutsche wirft dem Simon-Wiesenthal-Center (SWC) „eine Feinderklärung“ vor, die Frankfurter Allgemeine sieht „schwere intellektuelle und strategische Fehler“ des SWC. Die Frankfurter Rundschau bekennt dümmlich: „Aus Augsteins Texten spricht kein Ressentiment“. Peinlich, daher repräsentativ, solidarisiert sich der Parlamentskorrespondent der TAZ mit dem „scharfen, rationalen Kritiker“ Jakob Augstein: „Wir Antisemiten!“ Radio Brandenburg nahm Henrik M. Broder aus dem Programm: „Wir reden stattdessen mit einem Antisemitismusexperten.“ Augstein selbst immunisiert sich mit dem gebräuchlichsten Gegengift. Er bedauert, dass Juden den großartigen Kampf der Deutschen gegen den Antisemitismus schwächten, was „zwangsläufig der Fall“ sei, wenn sie ihn, den deutschen  Journalismus, kritisierten. Aber, „jeder Kritiker“ müsse damit rechnen, „als Antisemit beschimpft zu werden“. Dieser Reflex ist effektvoll, weil er mehrere Stereotype für den Gegenangriff zentriert. Er macht in routinierter Täter-Opfer-Umkehr den Deutschen zum Opfer der Juden, deklariert Juden zu Verursachern des Antisemitismus und kolportiert das Gerücht von der jüdischen Allmacht. Ja, darf denn keiner mehr Israel kritisieren in einem Land, „wo ‚Israelkritik’ Volkssport ist?“ (Titanic).

Dass bürgerliche Medien die jüdische Einrichtung mit Bannfluch belegen und Jakob Augstein ungeprüft als kritischen Journalisten durchwinken, dokumentiert, dass er einer von ihnen ist und sie es ungehörig finden, dass er gemeinsam mit Sudel-Antisemiten aufgelistet wird. Augstein ist reich und repräsentiert die deutsche Medienkultur (Spiegel, der Freitag, Phönix) und Leitkultur. Wie Martin Walser, der vor ihm seinen Ekel vor der „Auschwitzkeule“ kundtat, was die versammelten Bildungs- und Großbürger ihm mit stehenden Ovationen dankten. Augstein ist Teil der deutschen Elite, die jedes Jahr den grünen Hügel in Bayreuth hinaufwallt, um hautnah zu erleben, wie der „kulturunfähige“ Jude „Beckmesser“ in Richard Wagners Meistersingern zuerst ausgelacht und dann über die Bühne geprügelt wird.

Weder Deutschlands Elite noch sein Tresenpublikum nimmt es hin, dass Juden den deutschen Journalisten, der über Nacht ein kritischer geworden sein soll, auf die Liste setzen. Zudem Juden aus den USA, wo jeder Präsidentschaftskandidat „sich vor Wahlen immer noch die Unterstützung der jüdischen Lobbygruppen“ zu sichern habe, so Augstein. Zwar hat der Kandidat sich bei tausend Gruppen beliebt zu machen, auch bei Schwulen, ohne dass sie in den Geruch kämen, die Welt zu beherrschen. Aber bei Juden ist das anders. „Wenn es um Israel geht, gilt keine Regel mehr,“ schreibt Augstein, „Politik, Recht, Ökonomie – wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin dessen Willen“. Deutsche Politik, Justiz, Wirtschaft – das alles wird von Jerusalem gesteuert? Ob dieser Ohnmacht stellt er verzweifelte Resignation zur Schau: „Israel bekommt das, was es will.“ Erst hätten „die Deutschen Hunderte von Millionen überwiesen (...) Später haben sie U-Boote hinterhergeschickt.“ Für Jerusalem setze man alle „Regeln der guten Haushaltspolitik und der marktwirtschaftlichen Ordnung (...) außer Kraft“. Auch deren Charakter will er uns nicht verheimlichen. Als Angela Merkel einmal „kurz versucht“ habe, eine kleine Gegenleistung „für die deutsche Großzügigkeit“ zu bekommen, lachten sie. Und „als die Israelis mit dem Lachen fertig waren“, da war auch Merkel fertig. Für Gregor Gysi sind die Appelle an die jüdische Weltherrschaft und Arglist gute Gründe, Augstein als „herausragenden und kritischen Journalisten“ zu würdigen. Vielleicht mögen sie sich - wegen der Kalauer. Okay, Gysi hat die Partei zusammenzuhalten. Hielte er Augstein für einen Antisemiten, müsste er gegen die Hälfte seiner Genossen Ausschlussanträge stellen.

Der antisemitische Verschwörer muss nichts wissen, nur seinen Eingebungen folgen. Wer wissen wolle, wer hinter dem Anschlag auf die amerikanische Botschaft in Bengasi steckt, müsse nur fragen: „Wer profitiert davon?“ Israel, flüstert die Eingebung. Überall zünden zornige junge Männer amerikanische Fahnen an, „aber die Brandstifter sitzen anderswo“, weiß er jetzt, und deshalb seien islamistische Milizen, die mit schwerem Kriegsgerät die US-Botschaft zerstört und fliehende Botschaftsangehörige ermordet haben, „ebenso Opfer wie die Toten von Bengasi“, Opfer von „Wahnsinnigen und Skrupellosen“ in der Knesset, denen die Toten gerade gelegen kamen, weil sie gerade „immer heftiger“ darauf drängten, den Iran zu bombardieren. Ach ja, die Wut begann nach dem  Mohammed-Film des Kopten. Schnell fragt Augstein: „Kann man sich vorstellen, dass der (...) Kopte in anderem als im eigenen Auftrag handelte?“ Wir ahnen, dass der Kopte ohne Hilfe aus Israel zu gar nichts fähig war, oder vielleicht doch, „zumindest traut man ... der israelischen Regierung“ so etwas zu. Der verkehrte Opferritus impliziert, dass mit jeder Hamas-Rakete die jüdische Generalschuld wächst. Wer bei Verstand ist, fragt sich: Was soll es Israel nützen, von der Welt gehasst zu werden? Warum soll Israel, wenn es Atombunker im schiitischen Iran bombardieren will, die Sunniten gegen sich aufbringen? Warum soll ein Kopte nicht fähig sein, schlechte Filme zu drehen? Augsteins antisemitischer Okkultismus taugt nicht mal fürs Astro-TV, wird aber von allen Medien, die als seriös gelten, als kritischer Journalismus gewürdigt. Wo lebe ich?

Augsteins größter Wurf ist die Opfer-Täter-Umkehr. Netanjahu führe „die ganze Welt am Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs“, schreibt er. Die Nähe zum „anschwellenden Bocksgesang“ von Botho Strauß, mit dem der ausdrücken will, dass Stammeskulturen sich durch die Tötung Fremder naturhaft regenerieren, ist kalkuliert. Er fügt bestätigend hinzu, dass Israel eben „außer Gewalt kaum eine Antwort“ kennen würde. Sein leuchtender Held Günter Grass habe zu Recht geschrieben, dass Israel „den ohnehin brüchigen Weltfrieden“ gefährde und einen Plan schmiede, der „das iranische Volk auslöschen“ könne. „Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt,“ schreibt Augstein, „dafür muss man Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen.“ Religiöse Erlöserrhetorik aus Dankbarkeit und Bewunderung! Grass hat den Deutschen den auf ihnen lastenden Fluch genommen. Sie können nun - unter Berufung auf ihren Nobelpreisträger - Juden des beabsichtigten Völkermords und der Gefährdung des Weltfriedens bezichtigen, können die schlimmsten Taten der Deutschen auf Juden projizieren. „Es musste gesagt werden,“ atmet Augstein auf. Grass spielt in diesem Bühnenstück den „Arier“, der vor der jüdischen Bluttat warnt, und Augstein den Jünger, der ihn als Messias anbetet. Diese „Zeilen“ werden einmal „zu seinen wirkmächtigsten Worten zählen“, wie bei dem anderen die Bergpredigt. Versöhnt mit der eigenen SS-Vergangenheit, lässt es sich ruhig sterben.  

Da Juden weder Völkermord noch Weltkrieg anzulasten ist, konzipieren Augstein und Grass eine fiktive Welt, in der Juden es umso mörderischer treiben würden. Die dreißig realen Kriege auf der Welt, mit denen Israel nicht das Geringste zu tun hat, werden ignoriert, so dass Krieg führende Staaten auch nicht als Kriegsgefahr in Erscheinung treten. Der Iran und Saudi Arabien bekriegen sich im Irak und in Syrien, Syrien schießt auf die Türkei, die Türkei holt die Nato zur Hilfe, im Kongo morden Stellvertreter-Milizen, Afghanistan, Sudan (...) die USA entsenden Flugzeugträger nach Asien, wo China Gewässer beansprucht, die US-Verbündete für sich reklamieren. Die realen Kriege und bedrohlichen Konflikte stellen in der Scheinwelt des Antisemiten kein Risiko dar - es gibt sie nicht, auch nicht die Opfer. Der Antisemit verhält sich zwangsläufig gegenüber anderen rassistisch, weil ihm ein einziger, von Israel getöteter Hamas-Krieger wertvoller ist als eine Million Tote mit schwarzer Haut.

Die Opfer-Täter-Umkehr begegnet uns auch in der Bewertung des Nahost-Konflikts. Manisch soll die israelische Regierung „die einzige“ sein, „die gegenwärtig den Weltfrieden (...) gefährdet", „den so genannten arabischen Frühling für sich ausnutzt“ und „vor allem den Krieg in Syrien fördert“ (Freitag). Für den Antisemiten fördert Israel den arabischen Frühling und den Krieg in Syrien und ist gegen beide. Die Propaganda kann auf die Verkümmerung des Intellekts keine Rücksicht nehmen. Für Augstein ist die Bewaffnung Israels nicht Schutz vor Staaten, die jede Woche ihre Absicht verkünden, die Juden zu vernichten, sondern eine Bedrohung für die Verkünder. So werde der Iran durch Israel „genötigt“, „eine eigene Bombe zu haben“, und jede Waffe für Israel erhöhe den Druck auf „arabische Nachbarstaaten, selbst zum Mittel der nuklearen Aufrüstung zu greifen“. Den erklärten Feinden Israels die atomare Aufrüstung ans Herz zu legen und Israel die Entwaffnung zu gönnen, ist eine Dialektik, die gedanklich die Vernichtung der Juden in Kauf nimmt.

Augstein scheut nicht einmal Begriffe, die Israel in die Nähe des Dritten Reichs rücken. Er propagiert Gaza als „Endzeit des Menschlichen“, als „ein Gefängnis. Ein Lager (!)“, wo Menschen „zusammengepfercht hausen“. Die Gaza-Bewohner haben eine Lebenserwartung von 74 Jahren, so hoch wie in Ungarn und höher als in der Türkei und über hundert Staaten, und sie können, wenn ihnen danach ist, Raketen abschießen, um Juden zu töten. In deutschen Lagern dagegen (...) Diese Lager-Metaphorik ist genauso unanständig wie die Bluttaten, die Augstein in seinem Freitag von Eingeweihten kolportieren lässt. Da tun Juden ständig harmlosen Menschen Gewalt an, „allen voran Kinder und Frauen“. Da will sich ein Kind einen Geburtstagskuchen kaufen, „als sein junges Leben“ durch Kugeln aus einer israelischen Waffe beendet wird. Alles erinnert an den „Kindsmord“ im Mittelalter.

Jakob Augstein ist weder harmlos noch geht es ihm um Kritik an der israelischen Politik. Er erfüllt alle geläufigen Kriterien des Antisemitismus. Man stößt auf das Vorurteilssyndrom bis zu wahnhaften Projektionen, die modernen Synonyme für Judenheit: Israel oder Jerusalem, den Griff nach der Weltherrschaft, die Störung eines vermeintlichen Weltfriedens, die jüdische Verantwortung für den nächsten Weltkrieg, die Täter-Opfer-Umkehr bis zum unterstellten Völkermord, auf jüdische Blutbäder und Kindsmorde. Die Fragen, ob Augstein auf die Liste gehört oder der richtige Zeuge gefunden wurde, lenken nur ab. Man sollte den Initiatoren der Liste danken, dass sie die Weltöffentlichkeit auf den smarten antisemitischen Dauerhetzer aus Deutschlands Top-Medien aufmerksam gemacht haben.

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