Mein Freund, der Schlagbaum ... Macron, May, Merkel - die Lage in Europa im Frühjahr 2017 -

Wahlen in Frankreich, Großbritannien und Deutschland, im September ein Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien ... „Wahrlich schicksalsschwere Monate!“, kommentierte die „FAZ“. Der Grund für den Seufzer ist „das Volk“, das sich in Wahlen nicht immer an den Bedürfnissen der kapitalistischen Moderne orientiert, sondern sich bisweilen auf reaktionäre Weise antikapitalistisch verhält. Die Produktionsverhältnisse sind reif für die Vereinigten Staaten von Europa, doch in der Blüte der grenzübergreifenden Wertschöpfungsketten wollen Schrott-Proletarier und Gemüsehändler, Linke und Faschisten, Heimatbündler und Tories zurück zu alten vaterländischen Konkurrenzschlachten.

    Das Spannungsverhältnis zwischen dem vernetzten europäischen Kapitalismus und dem Flickenteppich von Nationalstaaten wird weitere Krisen und Angriffe der Nationalbewegten kaum aushalten. Die EU löst sich entweder auf oder kriegt die Kurve zu den Vereinigten Staaten von Europa. Die Pole sind Frankreich und Großbritannien.

 

Vornehm geht die Welt zugrunde

Das britische Parlament hat Neuwahlen beschlossen, weil der Brexit ein stabileres Fundament benötigt als das Referendum über den EU-Austritt und weil die Briten wählen sollen, bevor sie die desaströsen Folgen zu spüren bekommen. Ein Entgegenkommen der EU ist nicht zu erwarten. Die Chefs der 27 EU-Staaten (ohne Großbritannien) hatten sich in vier Minuten auf ihren Leitfaden für die Verhandlungen geeinigt. Die EU verlangt 100 Milliarden Euro und für EU-Ausländer dieselben Rechte wie für Briten, erst danach soll über das Handelsabkommen gesprochen werden, das die Briten in jedem Fall schlechter stellen soll als „Mitglieder im EU-Binnenmarkt“. „London“ will nicht zahlen, das Handelsabkommen vorziehen und EU-Ausländer so behandeln „wie Syrer oder Senegalesen“, erklärte Theresa May. Und so kündigt sich die größte ethnische Säuberung in Friedenszeiten an. 3,2 Millionen EU-Ausländer auf der Insel und 1,5 Millionen Briten auf dem Kontinent wissen nicht, wo sie im nächsten Jahr leben werden. Die britische Entourage in Brüssel packt bereits die Koffer.

    „Die EU steht wie eine Wand!“, sagt Angela Merkel. Kein Wunder. Die angedrohte Abschiebung von Millionen EU-Bürgern, die Absicht, Industrie, Wissenschaft, Finanzhandel etc. von Großbritannien abzuziehen, sowie die von den USA angedrohte Fragmentierung des Welthandels und Lockerung des militärischen Schutzes schweißen zeitweilig zusammen. Der Druck, der auf den Briten lastet, ist zweifellos größer. Bei einem Scheitern verlieren sie den freien Zugang zum Binnenmarkt. Ausländische Konzerne, auf die die Hälfte des britischen Exports entfällt, könnten wegen der Verteuerung ihrer Waren durch Zölle und Löhne (nach dem Wegzug der Billiglöhner aus Polen, Ungarn und Rumänen) auf den Kontinent umsiedeln. Und Großbritannien macht im Außenhandel bereits 150 Milliarden Euro Miese im Jahr.

     Tony Blair erwartet „einen schweren Schaden“ für den britischen Lebensstandard. Das isolierte Land werde im weltweiten Wettbewerb zurückfallen. Simon Tilford vom Thinktank Centre for European Reform vermutet, dass Großbritannien 20 Jahre damit verbringen wird, „den Einfluss, den es so beiläufig weggeworfen hat, mühsam wieder aufzubauen“ und die Wiederaufnahme in die EU zu betreiben, „dann aber zu schlechteren Bedingungen“. John Palmer vom „Guardian“ ist sich nicht sicher, ob das Vereinigte Königreich als Staat überlebt. Vermutlich nicht. Der Brexit richtet sich immerhin gegen die Mehrheiten in Groß-London, Schottland und Nordirland. Die Schotten bereiten ein neues Referendum vor, in Nordirland fordern Katholiken die Wiedervereinigung mit Irland, weil der neue Grenzwall sie von ihren Verwandten trennen würde.  

     „Vornehm geht die Welt zugrunde“, sagt der Volksmund.     Der Glaube der Briten an ihre Unverwundbarkeit ist tatsächlich rätselhaft. Schon Karl Marx wunderte sich. Er stellte der britischen Weltbeherrschung „eine sehr gewichtige Gegenrechnung gegenüber“. Die Militärausgaben hätten „sich mit der Ausdehnung des ... Herrschaftsgebietes ständig erhöht“; dazu kämen die Kosten für „endlose Eroberungen und ständige Aggressionen“. Am Ende hatte sich der britische Anteil an der weltweiten Industrieproduktion zwischen 1850 und 1913 von 42 auf 21 Prozent halbiert.

    Genaueres über die Dialektik von Nationalstolz und Ruin erfährt man auf dem Gemüsemarkt. Der schwache Pfund verteuere zwar das Importgemüse, sagte ein Händler, aber „für den Stolz der Nation“ nehme er das in Kauf. „Ich will mein Land zurück“, sagte ein Käufer, „und, dass die Grenzen dicht sind!“ Ein Händler: „Es sind zu viele Fremde hier!“ Der Nachbar: „Ich will nichts von Brüssel diktiert bekommen!“ Seine Kundin: „England sollte für die Engländer dasein!“ Für den Stolz der Nation zu darben, war in der Unterklasse schon mal weniger ausgeprägt. In der Oberklasse will der Traum vom Empire nicht enden. Was beide vereint: Sie wollen auf keinen Fall Glühbirnen nach einer Brüsseler Verordnung in den Kandelaber drehen.

 

Der Hoffnungsträger

In Frankreich liegen die Dinge anders. Die EU kann ohne Großbritannien existieren, aber nicht ohne Frankreich, und  Präsident Emmanuel Macron hat gezeigt, dass sich mit einem proeuropäischen Profil auch außerhalb Deutschlands Wahlen gewinnen lassen. Macron inszenierte seine „Kaiserkrönung“ vor dem Louvre mit Beethovens Europa-Hymne statt mit der Marseillaise, versprach, den „Geist der Aufklärung“ nach Europa zurückzubringen, Freihandel und offene Grenzen zu fördern. Er sieht in der Emigration „eine Chance“ und rühmt, dass Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik „die Würde Europas gerettet“ habe. Er will die Achse Frankreich-Deutschland festigen und - geradezu antizyklisch -die Eurozone (nicht die EU) mit einem eigenen Parlament, Haushalt und einem Finanzminister ausstatten.

     Das sind Instrumente auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa. Mit Macron könnte eine Ära beginnen, in der Frankreich als Repräsentant der europäischen Südländer neben Deutschland Platz nimmt. Yanis Varoufakis appellierte an die Linken, unbedingt Macron zu wählen. Als die Troika die Entschuldung Griechenlands „im Keim erstickte, ... war Macron der einzige europäische Staatsminister, der uns helfen wollte“.

     So wie Francois Mitterand mit dem Euro und der Europäischen Zentralbank Deutschland einhegen wollte, würden auch Macrons „Vereinigte Staaten“ Deutschland stärker kontrollieren als die freie Konkurrenz der Nationen. Insofern ist der Kampf der Linken gegen Brüssel, EU und Euro ein Einsatz für das „neoliberale“ Recht des Stärkeren und Deutschlands Hegemonie. Euro-Gegner blenden gern aus, wie arm Südeuropa in Zeiten nationaler Währungen war. Die Disparitäten in Europa werden nicht von der Politik, dem Euro oder Brüssel geschaffen, sondern vom Kapitalismus, der nur in profitablen Räumen investiert und unprofitable entleert.

 

Der Gesinnungsverfall

45 Prozent der Arbeiter hätten Le Pen gewählt, sagt Sarah Wagenknecht, Schuld daran seien „nicht die Menschen, die so wählen ... Schuld ist die Politik.“ Leute wie Macron hätten Le Pen stark gemacht. Das ist Propaganda für Genügsame. Zuerst prägt der Kapitalismus die Menschen durch Ausbeutung, Entfremdung, Verdinglichung und Entbehrung. Entsprechend stumpf schlagen sie zurück, wenn sie nicht durch kritische Aufklärung klug geworden sind. Eben die verhindern Wagenknecht-Linke, die den Kapitalismus mit keinem Wort kritisieren, sondern die faschistische Disposition übernehmen, den Unmut der Menschen umzulenken auf die Politik, Bürokratie, auf Brüssel und den Lobbyismus, auf die EU, den Euro, auf Banken und Finanzen, Globalisierung als Synonym für Ausland und andere Popanze. Auf diese Weise ist eine Querfront des Denkens und der Begriffe entstanden, die Vorurteilen und Verschwörungsphantasien einen rationalen Anstrich verpassen. „Linke Wähler stehen uns nahe“, sagte Florian Philippot, die rechte Hand von Marine Le Pen, auch sie „wollen kein finanzdiktiertes Europa“.

     Linke und Rechte plappern heute die Nazi-Doktrin vom guten schaffenden Kapital und den böse raffenden Finanzen  nach, diesen Unfug, der ausgedacht wurde, um die Ausbeutung in der Mehrwertproduktion als Dienst am Vaterland zu preisen und alles Ungemach auf die imaginäre Weltfinanz und Juden zu projizieren. Mit der Überschrift: „Faschisten gegen Banker“ suggeriert die Tageszeitung „Junge Welt“, dass es zwischen Faschismus und bürgerlicher Demokratie eigentlich nichts zu wählen gibt, um dann aber unverdrossen auf Macron einzudreschen, den „Investmentbanker des Geldhauses Rothschild“. Der Jude!     

     Eingeweihte wissen das. Wagenknecht prangert den „smarten Investmentbanker“ und die „Brüsseler Lobbykraten“ an, für Jean-Luc Mélenchon ist er der „Kandidat der Hochfinanz“, für Le Pen die „Marionette des internationalen Finanztums“. Victor Orban ficht gegen „Brüssel und das internationale Finanzkapital“, Matteo Salbini (Lega Nord) gegen „Banker und Bürokraten in Brüssel“, die deutsche Linkspartei phantasiert eine „Brüsseler Fremdherrschaft“ herbei, will „die Macht von Kommission und Räten“ brechen und den Einfluss der Nationen „drastisch erweitern“.

     Deutschland statt Oettinger! Die „marxistische Philosophie“ der DDR wirkt nach: „Patriotismus und Nationalgefühl der Völker stehen nicht im Widerspruch zur internationalen Einheit der Werktätigen.“ Volksdeutsche, vereinigt euch! Wer gegen „Brüssel“ kämpft, kann auch, wie es der Hund zu tun pflegt, den Mond anbellen. Brüssel ist die Verwaltung des europäischen Gesamtkapitalisten. Wer tausend Bausätze für den Airbus täglich zwischen Großbritannien, Deutschland und Frankreich hin und her fliegt, in der Autoproduktion auf die punktgenaue Anlieferung von Komponenten aus allen Ecken Europas angewiesen ist und Handelsabkommen mit Asien vereinbaren will, braucht die Koordination, die Angleichung von Normen etc. 

     Wir sollten den Islam nicht übersehen. Alice Schwarzer hat „eine nette Nachbarin“, die ihr erzählt hat, dass sie in Lyon „die Straße kaum überqueren kann, weil Hunderte von Muslimen da öffentlich beten“. Wer betende Moslems als Attentäter identifiziert, „erhofft sich ganz persönlich etwas von der emanzipierten Marine“ (Schwarzer), die ebenso als nette Nachbarin daherkommt und den Leuten zuruft: „Ich werde euch die Grenzen wiedergeben!“ Als wären Grenzbäume, Autoschlangen, Spürhunde, Zöllner und Gendarmen das, was die Franzosen schon immer gewollt haben. Außerdem wollte sie den Franzosen in der Wahl „zwischen Globalisierung und Patriotismus“ den Franc, einen Wirtschaftspatriotismus, Freundschaft mit Putin und die Vertreibung Artfremder schenken.

     Es waren bürgerliche Stimmen, die den Faschismus beim Namen nannten. „’National’ und ‚sozial’ gehen eine Verbindung ein. Das ist auch der Grund, warum ... Sarah Wagenknecht manchmal wie ... Frauke Petry klingt ... und sich Mélenchon schwertut“ mit einer Empfehlung für Macron („Handelsblatt“). „Le Pen kaschiert ihre faschistische Herkunft nur schlecht, predigt Fremdenhass und wirtschaftliche Abschottung und bewundert Autokraten“, schrieb die „Neue Züricher Zeitung“. Ein Beamter aus der Provence bestätigt das. Er war dem Front National beigetreten, aber gleich wieder ausgetreten, weil die Volksgenossen abends beim gemütlichen Zusammensein nach Großverantstaltungen mit „Marine“ faschistische Lieder gesungen, gegen Juden gehetzt und den Hitlergruß gezeigt hätten.

Veröffentlicht in Konkret 6/2017