Fluch des Y-Chromosoms

von Rainer Trampert

Seit einigen Jahren wird davon ausgegangen, dass wir in einer Wissensgesellschaft leben. Wir wissen heute mehr als früher! Früher wurde angenommen, dass Armut und Psychosen etwas zu tun haben mit Klassengesellschaft, Entfremdung oder beknackter Familie. Falsch! Durch die Genforschung wissen wir heute: Es gibt keine gesellschaftlichen Ursachen! Du hast entweder Glück oder Pech mit deinen Genen. Wie wenn das Karma nicht auf deiner Seite ist oder die Karten schlecht liegen. Ob Buddha, Skat-Blatt oder Gene, alles ist höhere Gewalt.

Wer, sagen wir, aufwächst mit einem Hartz-Vier-Gen, Obdachlosen-, Ausweisungs-Gen oder anderen typischen Verlierer-Genen, der hat Pech gehabt. Wer aber aufwächst mit einem Deutsch-Gen, 12-Stunden-Tag-, Ehe-, Einfamilienhaus- und Alles-Versicherungs-Gen, der hat auch Pech gehabt, verfügt aber meistens über mehr Geld und darf im Land bleiben. Das alles ist in den letzten fünf Jahren entschlüsselt worden. Nur eines konnte man sich nicht erklären: Warum geht es den Männern nicht so gut? Mit Hilfe der Genetik ist es dem Spiegel nun gelungen, dieses letzte Rätsel zu lösen.

„Das Y-Chromosom oder: warum gibt es eigentlich Männer?“

heißt die Studie, aus der alle Zitate sind. Ein Wort zur Methode: Die Autoren haben drei Bücher gelesen: ‚Keine Zukunft für Adam‘, ‚Männer-Versagen‘ und ‚Der Mann. Ein Irrtum der Natur‘. Dazu wurde der britische Genforscher Steve Jones als Fachmann befragt. Wer sich in der Fortpflanzungs-Genetik nicht auskennt: Spermien transportieren für die Geburt von Mädchen zwei X-Chromosomen und für Jungs

„das mickrige Y-Chromosom, das weniger Ballast schleppen muss und deshalb schneller schwimmen kann“.

Es ist zwar schneller, aber leider defekt.

„Dem Y-Chromosom erging es seit rund 300 Millionen Jahren wie einem leckgeschlagenen Frachter auf hoher See, und dieser Trend setzt sich fort. Damit scheint unausweichlich, dass Männer aussterben werden.“

Ich will es ganz prosaisch sagen: Seit 300 Millionen Jahren sterben wir aus und das soll leider so weitergehen. Der Mann arbeitet auch selber an diesem Projekt, seit die ‚Homo sapiens steinheimensis‘ Lanzen in Feuer härteten und

aufeinander losgingen. Das Aussterben scheint aber erst mit Hilfe des Ys zu gelingen. Wir erkennen das an Kleinigkeiten.

„Haarausfall gibt es oft schon in jungen Jahren fast nur bei Männern.“

Damit könnte man zur Not weiterleben.

„Männer haben ein dreifach erhöhtes Risiko, dass sie stottern.“

Damit ließe sich auch leben, aber

„jeder 12. Mann hat eine Farbschwäche“,

läuft bei rot über die Straße und ins Auto: Aus!

„Hirsche beispielsweise röhren, dass man sie kilometerweit hört – doch zugleich sind viele von ihnen verseucht mit Parasiten.“

Männern geht’s wirklich nicht gut. Sie röhren wegen der Parasiten, was oft als Brunft-Ruf missdeutet und als störend empfunden wird. - Der Spiegel fragt Steve Jones, warum der Mann genetisch so benachteiligt ist.

„Ach, wissen Sie, die Genetiker können in Wahrheit bis heute nichts vorweisen.“

Damit geben Spiegel-Leute sich nicht zufrieden.

„Aber Sie bestreiten nicht, dass es angeborene Unterschiede von Männern und Frauen gibt?“

Die gibt es, sagt Jones:

„Männer pinkeln im Stehen und leben kürzer. Aber in Armut leben Männer wie Frauen 6 Jahre kürzer. Mitnichten sind wir Sklaven unserer Gene. Biologische Differenzen werden vernichtend übertroffen durch soziale Unterschiede.“

Die Wissenschaft weiß nichts, das Y ist unwichtig, aber das Titelblatt ist schon fertig. Also müssen die Autoren selber

„das Y-Chromosom, das aus 60 Millionen Bausteinen besteht“,

entschlüsseln und dabei stoßen sie auf bahnbrechende Neuigkeiten.

„Am Beispiel der Wiedervereinigung wurde bestätigt, dass rein rechnerisch und nach Berücksichtigung anderer denkbarer Faktoren 1991 im Osten immerhin 743 männliche Föten fehlten.“

Gleich nach der Wiedervereinigung waren männliche Föten verschwunden, die es in der DDR noch gegeben hatte. Männer haben also in DDR-Verhältnissen bessere Überlebens-Chancen als in der Marktwirtschaft.

„Auch nach dem ersten und dem zweiten Weltkrieg wurden in Deutschland mehr Knaben als Mädchen geboren.“

Das Y regeneriert sich auch im Krieg ganz gut! Männer könnten also ihre Fortpflanzung sichern, wenn sie ständig Sozialismus und Krieg machen würden. Nun merken die Autoren, dass mehr Jungs zur Welt kommen, obwohl sie aussterben sollen, und erklären Kriegs-Geburten zum Sonderfall.

„Soldaten auf Heimaturlaub und ihre Frauen versuchen gezielt und in hoher Frequenz, an fruchtbaren Tagen Nachwuchs zu zeugen – was auf Grund der schnell schwimmenden Y-Spermien zu mehr Jungen führt.“

Das weiß ich von meinen Eltern. In den drei Tagen Front-Urlaub haben sie die fruchtbaren Tage ermittelt und dann die Paarungs-Frequenz erhöht. Aber was ist in Friedenszeiten?

„Auch im Frieden sind mehr Jungen als Mädchen übrig.“

Das überrascht mich.

„Die Natur begünstigt die Schwachen.“

So oder so kommen also mehr Jungs zur Welt.

„Dann jedoch beginnt der Fluch des Y-Chromosoms zu wirken.“

Ach so! Erst nach der Geburt schlägt das Y zu.

„Den Trägern des Y-Chromosoms gibt die Natur eine große Bürde mit auf den Weg: Ob Herzinfarkt oder Tod im Straßenverkehr – alle großen Geißeln scheinen bevorzugt Männer dahinzuraffen.“

Das Y zwingt Männer, auf der Autobahn Wettfahrten zu veranstalten, und obwohl 80 Prozent Männer hinterm Steuer sitzen sind sie häufiger in Unfälle verwickelt. Mysteriöse Erscheinungen, die ohne das Y nicht zu erklären sind.

„Erheblich mehr Männer als Frauen töten sich selbst“,

was nur am Y liegen kann und nicht etwa am Scheitern vorm Erfolgsdruck. Was meint Mr. Jones dazu?

„Solche Theorien können Sie aufstellen, bis Sie schwarz werden.“

Sowas nennt sich Wissenschaftler! - Die Biologie verlangt aber noch mehr von uns.

„Männer werden neunmal häufiger kriminell als Frauen. Massaker, Mord und Totschlag gehen fast ausschließlich auf das Konto der Männer, auch die Organisierte Kriminalität, der Sex-Tourismus und sexueller Missbrauch. Bei Betrug sind in 99 Prozent Männer die Täter. - Der Fluch des Y-Chromosoms!“

Schrecklich, was die Natur uns aufbürdet. Männer bereichern sich nicht, weil sie ihr Ansehen in Geld messen. Vergewaltigung und Ermordung von Frauen und Mädchen haben nichts mit Macht-Sozialisation zu tun. Alles ist nur der Fluch des Ys. Der Mann kann nichts dafür. – Aber warum sterben Männer aus, wenn sie Frauen ermorden?

„Das Y-Chromosom, dieses ultimative Symbol männlichen Machismo, degeneriert in einer derartigen Geschwindigkeit, dass es mit dem Mann bald vorüber sein wird.“

Vielleicht hat die Natur ein Einsehen mit den Opfern, zumal

„der Anteil junger Männer mit solchen Neigungen immer größer wird.“

Die letzten Zuckungen einer gefährdeten Art.

„Von den Spermien bis zur gesellschaftlichen Stellung sind die Männer im Niedergang begriffen. Vor unseren Augen spielt sich eine ungeheure Krise von Männern und Jungen ab: Der soziale Abstieg des Mannes!“

Endlich sind wir beim Thema! Unsere Machtfülle ist bedroht!

„Der soziale Abstieg hat nichts mit dem biologischen zu tun. Und doch führt er dazu, dass der Mann nicht mehr als Rambo gesehen wird, sondern als schwächliches Geschöpf wie früher nur das Weib.“

Schrecklich! Der Mann ist gar kein richtiger Kerl mehr! Wenn das so weitergeht, sind wir bald .. wie

„Anglerfische, bei denen der männliche Winzling ein Leben lang am Körper des ungleich größeren Weibchens klebt“.

Welche Frau will sowas an sich baumeln haben? - Dank Spiegel wissen wir: Durch das Y werden Männer immer gewalttätiger und mutieren zu zarten Wesen. Das Y bedingt ein Anwachsen des Machismo und die Abkehr davon. Was hält Mr. Jones von dieser brisanten Neuigkeit?

„Wenn’s sich um Männer dreht, dann kann man sich die Tatsachen zusammensuchen, wie’s einem passt. In diesem Ausmaß habe ich das in der Wissenschaft selten erlebt.“

Unter uns: Das könnte daran liegen, dass Männer an den Schalthebeln der Wissenschaft sitzen und Bücher verkaufen wollen. Sie suchen zusammen, was ihnen passt, bis ihre Interessen biologisch fundiert zu sein scheinen. - Frauen liegt das Soziale, Männer können logisch denken!

„In jedem Schuljahr bleiben mehr als doppelt so viele Jungen als Mädchen sitzen.“

Auch Albert Einstein ist mal sitzengeblieben! Und weil der Mann so gut rechnen kann, hat er ein Problem. Die männliche Population ist nämlich rein ökonomisch

„eine Verschwendung der Natur. Wie viele Knospen muss ein Hirsch von den Büschen raspeln, um sich irgendwann mit einem Nebenbuhler verhakeln zu können?

Lass ihn doch raspeln!

„Was kosten die langen Schwanzfedern den Pfau?“

Keine Ahnung, sieht aber hübsch aus.

„Eine Hälfte der Population, beim Menschen die Männer, muss viele Jahre aufgezogen, gepäppelt und ernährt werden – und all das nur, um irgendwann einmmal ein paar Samen zu spenden.“

Darum hat meine Mutter mich so verwöhnt? Ich dachte immer: Sie hat mich lieb. - Wir sind also eine Samenbank.

„Warum ist der Mann überhaupt erst entstanden?“

Warum?

„Die Antwort lautet, natürlich: Sex.“

Ach was! Ich denk‘ wegen der Samenspende?

„Wo wäre die Menschheit ohne Sex? Wir würden uns mühelos vermehren, aber weder Königreiche errichten noch Kathedralen.“

Ohne Y weder Reiterdenkmal, noch Kathedrale. Eine öde Zukunft. Ab wann wird es das alles nicht mehr geben?

„Männer werden in 125.000 Jahren von der Erdoberfläche verschwunden sein, so wie vor ihnen die Dinosaurier. Ihr Ableben könnte sich ebenso gut erst in ein paar Millionen Jahren ereignen.“

So genau ist das erforscht? Also nachdem die Erde vom schwarzen Loch verschluckt wurde. - Unter uns: Wie wär‘s jetzt mit‘ner Theorie, dass das Y gar nicht stirbt?

„In aller Stille hat das Y-Chromosom eine Strategie zum Überleben entwickelt: Sex mit sich selbst.“

Onanieren als Überlebens-Strategie! O.K., aber ich dachte: So funktioniert die Fortpflanzung nicht.

„So kann das Y-Chromosom seinem Verfall entgegenwirken, mitunter sogar neue, vorteilhafte Genvarianten hervorbringen.“

Das Y regeneriert sich also ständig. - Unter uns: Kann man nicht auf dieses blöde Y verzichten?

„Das Männlichkeits-Gen könnte sich auch ohne Y-Chromosom vermehren. Die Männchen der Mull-Lemminge im Kaukasus zeigen bereits, wie es einem ohne Y-Chromosom geht.“

Den Mull-Lemmingen geht es wirklich gut. Die beiden im Spiegel sehen putzmunter aus. - Fazit: Seine Vorherrschaft muss der Mann täglich verteidigen, aber die biologische Seite hat ein Happy-End! Darüber freut sich auch der Spiegel.

„Wie sähe eine Gesellschaft ohne Männer aus? Kein Krieg, keine Vergewaltigungen, selten Totschlag und Mord. Bleiben aber wichtige Fragen offen: Wer würde die Spinnen im Schlafzhimmer töten? Und über wen würden Freundinnen nächtelang am Telefon lästern?“

So ist der Spiegel-Stammtisch! Er lacht über seine Phantasie, dass Frauen Vergewaltigung und Mord in Kauf nehmen, damit sie was zu lästern haben. Das habe man zwar geschrieben, sagt die Saufrunde, aber eigentlich habe man die Geschichte nur erfunden, weil man mal sagen wollte, dass Frauen Quasselstrippen sind. - Mehr war auch nicht drin, sagt Mr. Jones, denn in diesem Punkt

„ist die Wissenschaft einfach Schrott. Grottenschlecht.“

Aber dank Spiegel sind wir heute schon fast wieder bei der Schädel-Messung angelangt, also in der Blütezeit der Wissensgesellschaft.